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UNSER LIEBLINGSSTÜCK
Das schlechte Gewissen und ich
Symbolbild Kindertagesstätte       -  ARCHIV - Spielzeug liegt am 18.04.2016 in einem Sandkasten in einer Kindertagesstätte in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen).
Foto: A4697/_Monika Skolimowska (dpa) | ARCHIV - Spielzeug liegt am 18.04.2016 in einem Sandkasten in einer Kindertagesstätte in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen).
Andrea Czygan
 |  aktualisiert: 10.05.2023 10:41 Uhr

Vorbereitet hatte mich niemand. Dabei ging's mit der Geburt meines ersten Kindes los. „Sie müssen fester pressen“, fuhr mich die Hebamme an. „Was mache ich hier wohl, Cocktails trinken oder was?“, wollte ich zurückgeben. Bloß hatte ich keine Luft zum Sprechen. Aber immerhin noch genug Kraft, um mich - während werdender Vater und Hebamme Witze austauschten - als Versagerin in Sachen Pressen zu fühlen. Das schlechte Gewissen, da war es das erste Mal. Machte ich meinem Kind den Weg ins Leben unnötig schwer? Hatte ich schon bei der Geburt versagt?

„Nimmt er genug zu?“ - Eine Nachbarin

Von da an waren wir ein Team - das schlechte Gewissen und ich. Wir arbeiteten prima und häufig zusammen. Als der durchaus wohlgeratene Sohn nur halbe Flaschen statt voller Pullen leerte wie der Lümmel aus der Familie ein paar Häuser weiter zum Beispiel. „Hoffentlich nimmt er genügend zu“, meinte dessen Mutter, während sie selbstzufrieden ihrem gierig saugenden Fratz 220 Milliliter Milch einflößte. Ich wünschte beiden das Übergewicht an den Hals. Und rannte am gleichen Tag zum Kinderarzt. Die Ultraschalluntersuchung des Baby-Magens brachte natürlich nichts. Nur einen genervten Blick vom Arzt. Am Abend vergrößerte ich die Löcher des Saugers mit einer glühenden Nähnadel. Ich atmete auf, mein Baby entwickelte aus unerfindlichen Gründen eine Neigung zum Erbrechen.

„Hast du keine Hemdchen aus Ökobaumwolle?“ - Eine Mutter aus der Krabbelgruppe

In den folgenden Monaten entwickelte ich eine starke Abneigung gegen Krabbelgruppen und Mütter mit gleichaltrigen Kindern: Der Bub hustete - „Du hast ihn wahrscheinlich nicht warm genug angezogen.“ Er fing nicht an zu krabbeln - „Du darfst ihn nicht so viel tragen.“ Er schrie, sobald ich den Raum verließ - „Na, den hast Du ja schön verwöhnt, der wird bestimmt ein Muttersöhnchen.“ Das Kind hatte Ausschlag - „Ich hab Dir gesagt, Du sollst nur Hemdchen aus Ökobaumwolle kaufen.“ Als er mit dreieinhalb Jahren das „R“ nicht richtig sprechen konnte, erschien mir das arme Kind in einem Alptraum als 35-jähriges lallendes Muttersöhnchen mit chronischer Bronchitis und schwerer Neurodermitis. Immerhin hatte er ein Mützchen auf, während er mir zurief: „Du bist schuld, du bist schuld!“

Zum Glück kam dann seine Schwester auf die Welt, ein reizendes, leider mit der Gabe der Ausdauer gesegnetes Schreikind. Ein Jahr lang nahmen das schlechte Gewissen und ich eine Auszeit voneinander. Schlafmangel und chronische Erschöpfung ließen mich Mützchen vergessen, Sauger nicht mehr nach jedem Gebrauch sterilisieren, bei der pädagogisch wertvollen Gutenachtgeschichte einschlafen und Fertig-Gläschen kaufen statt selbstpürierte Karotten-Kartoffelpampe auf Vorrat zu produzieren.

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Dann war mein Begleiter wieder da. Wir trafen uns zwar nicht mehr ganz so häufig, pflegten aber weiter eine innige Beziehung. Meinen Sohn hatte ich mit Memory- und Puzzlenachmittagen traktiert, um seine beruflichen Aufstiegschancen zu optimieren. Bei meiner Tochter hatte ich dafür gar keine Zeit mehr. Das arme Kind spielte einfach mit allem, was auf dem Boden lag, kletterte die Regale hoch und beobachtete eifrig den Bruder.

Im zarten Alter von drei Jahren war sie in der Lage, sich in rasender Geschwindigkeit auf ihrem Fahrrad und leider auch in Inlinern von mir weg zu bewegen, ältere Jungs mit lauten Schreien aus dem Sandkasten zu jagen, sich selbstständig Essen zu besorgen und sich allein anzuziehen. Leider konnte sie nicht puzzeln. „Haben Sie das nie mit ihr geübt?“, fragte mich die Kindergärtnerin mit strengem Blick. Und da war es wieder, das schlechte Gewissen. Ich fiel in mich zusammen. Wieder versagt. Wie sollte dieses Kind jemals Geld verdienen? Aus reinem Selbsterhaltungstrieb beschloss ich damals, die enge Beziehung mit dem schlechten Gewissen zu beenden. Das schlechte Gewissen wollte das nicht akzeptieren, also einigten wir uns auf eine lose Freundschaft.

„Haben Sie denn überhaupt genug Zeit fürs Kind?“ - Besorgte Eltern

Seitdem treffen wir uns immer noch ab und zu. Zum Beispiel, wenn andere Mütter routiniert aus den Hefteinträgen ihrer Schulkinder dozieren, ich aber natürlich nicht weiß, was mein inzwischen 13-jähriger Sohn und die zehnjährige Tochter gerade in Mathe und Erdkunde lernen. Oder wenn auf Elternabenden eifrige Erziehungsberechtigte schon wieder wissen, welche zusätzlichen Übungshefte für welches Fach die besten sind. „Na ja, Sie arbeiten ja, wahrscheinlich haben Sie nicht so viel Zeit für Ihre Kinder“, wird dann gerne als Erklärung angeführt.

Besonders kalt erwischt hat es mich neulich, als ich wirklich gar nicht damit gerechnet hatte: beim Bummeln mit einer wirklich sehr, sehr guten Freundin. „Machst Du die Müslischnitten für Deine Kinder etwa nicht selbst?“, hatte sie mich entsetzt gefragt.

„Backst du nicht selbst?“ - Eine gute Freundin

Leider reagierte ich unsouverän und bestrafte sie mit der Gegenfrage, ob sie zugenommen habe. Wir versöhnten uns erst wieder, als sie mir versprach, ein ganzes Blech selbstgebackener Müslischnitten vorbeizubringen. Seitdem ist mir klar, dass das schlechte Gewissen und ich wohl nie so ganz voneinander lassen können. „Zieh Deine Mütze an“, habe ich erst heute morgen wieder meinem Sohn beim Weggehen zugerufen. Er hat mich mitleidig angeschaut und brav die Mütze aufgesetzt. Als ich ihm liebevoll nachwinken wollte, sah ich, wie die Mütze im Rucksack verschwand. Heute abend hat er bestimmt Husten!

Die Serie Lieblingsstücke

Es sind Geschichten, die unseren Autoren im Gedächtnis geblieben sind. Geschichten, die sie berührt, herausgefordert, erheitert haben. Es sind ihre Lieblingsstücke, die sie teilweise vor noch gar nicht allzu langer Zeit, teilweise vor vielen Jahren geschrieben haben. Und die wir wieder aufleben lassen, in Erinnerung rufen möchten. Doch nicht nur das: Die Autoren haben sich nachträglich noch einmal Gedanken gemacht, ihr Thema neu aufbereitet, reflektiert, neue Zeilen geschrieben. Und auch die gibt’s auf mainpost.de zu lesen – in unserer Serie: Lieblingsstücke.

Der Originaltext Das schlechte Gewissen und ich von Andrea Czygan ist im Dezember 2007 erschienen.
 
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