
Der Mann war es. Dieser wunderbare Fremde aus der Münchner Kneipe, in die man nur geht, weil sie bis 5 Uhr geöffnet ist. Dieser Schauspieler, dessen Anziehungskraft bis in sein Hotelbett reichte, hatte ihren Krebs entdeckt. „Was hast du da?“, hatte er Renate Müller gefragt und vorsichtig über ihre rechte Brust gestrichen, „das musst du anschauen lassen.“
Es ist August 2008, als er das sagt und als etwas einbricht in Renates Welt. Ein dunkler Punkt, von dem sie hofft, dass er „weggeht“. Drei Wochen lang hofft sie. Sie, die kritische Journalistin, verdrängt.
- Die heutige Sicht der Autorin auf die Geschichte über die beiden Schwestern
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Dann geht sie, zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren, zu einer Frauenärztin. Lässt einen Ultraschall machen, wird zur Mammografie geschickt. Die Radiologin sagt nichts, gibt ihr eine CD und einen Brief mit, die Gynäkologin will eine Biopsie machen. In Deutschland erkranken jährlich 57 000 Frauen an Brustkrebs. Renate Müller muss eine Woche warten, bis ein Klinikbett frei ist.
Kein Platz für Krankheiten in ihrem Leben
Bis jetzt ist das Wort „Krebs“ noch nicht gefallen. Renate liest den Brief. Begriffe, die bislang nichts mit ihr zu tun hatten, stehen da: „Malignomverdächtig“, „stanzbioptische Abklärung“... Sie war nie ernsthaft krank. Mal eine Erkältung, eine Magenverstimmung, Menstruationsbeschwerden. In ihrem Leben ist kein Platz für Krankheiten. Sie arbeitet gern und viel, braucht Zeit für sich und ihre Freunde. Demnächst will sie nach Istanbul reisen. „Renate macht Party, wo keine Party ist“, sagt ihre Schwester Ingrid.

Das klingt schön. Ist es aber nicht immer. „Zeit unseres Lebens werden wir verglichen“, sagt Renate, „immer hängt ein Komparativ hinten dran.“ 1997 zieht sie sich raus aus der Zwillingsexistenz, geht für eine Weile nach Dresden, will keinen Besuch, auch nicht von Ingrid. Als sie zurückkommt, hat sie gelernt, dass „mich Leute auch allein mögen“.
Trotzdem. Die Wege, die die beiden klugen, starken, schönen Frauen beschreiten, ähneln sich so sehr wie ihre Kleidung, ihre langen Klimperohrringe, die Farben ihrer Lippenstifte. Renate ist heute Reporterin beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt, Ingrid Wissenschaftsredakteurin beim Gesundheitsportal netdoktor in München.
Aus dem Leben geschleudert
Sie steht auf einem Bahnhof, als ihr Handy klingelt. „Setz dich hin“, sagt Renate, „bei mir besteht Verdacht auf Brustkrebs.“ Ingrid fühlt sich „aus dem Leben geschleudert“. Krebs kriegen die anderen, die, die nicht erst 40 sind - und erst recht nicht Renate.
Ingrid Müller fährt nach Frankfurt, begleitet die Schwester zur Biopsie. Im Krankenhaus liegen Werbebroschüren für Perücken aus. Und „Mamma Mia!“, ein Brustkrebsmagazin. Das Titelblatt zeigt eineiige Zwillinge, gleichzeitig erkrankt. „Da dachte ich, dass es mich auch treffen kann“, sagt Ingrid. Schnell legt sie das Heft weg.
Am 3. September 2008 ist klar, dass Renate Müller Brustkrebs hat. Eine seltene Art, die von den Drüsenlappen ausgeht. Immer noch hat kein Mediziner das böse Wort in den Mund genommen. „Es ist nicht gut“, hat die Ärztin gesagt und dann über die Operation, die Chemotherapie, die Bestrahlungen gesprochen.
Renates Samtaugen schwimmen in Tränen, als sie das erzählt. „Wir waren aus dem Himmel gefallen“, flüstert sie, „Ingrid und ich waren jetzt ganz allein auf der Welt.“ Auf dem Rückweg von der Frankfurter Klinik machen die Schwestern etwas, was sie sonst nie tun. Sie schnallen sich im Taxi an. „Wir brauchten jetzt Halt.“
Gedanken an den Tod breiten sich aus in Renates Kopf. „Ich habe mir gedacht, dass ich nicht heute sterben werde und nicht morgen“, sagt sie, „und dann habe ich mir vorgenommen, dass ich erst mal versuche, weiter zu leben.“
Die Zwillinge sprechen plötzlich nicht mehr dieselbe Sprache
Am 17. September 2008 wird der 2,4 Zentimeter große Tumor aus Renate Müllers Brust entfernt. Der Krebs, der jetzt auch von den Ärzten so genannt wird, hat Metastasen gebildet, Lymphknoten in der Achselhöhle müssen weg geschnitten werden. Renate bekommt einen Port implantiert, durch ihn wird während der Chemotherapie der Medikamentencocktail in ihren Körper fließen.
Die Ärzte raten ihr zu einer Hochdosis-Chemotherapie mit neun Zyklen alle zwei Wochen. Geballte Ladungen zelltötender Mittel, verabreicht in Abständen, die nicht jeder aushalten kann. Renate wehrt sich. Sie, die das Mittelmaß stets verabscheute, möchte eine Standardtherapie mit sechs Zyklen alle drei Wochen. Ingrid glaubt ihre Schwester in Frankfurt nicht gut aufgehoben, will, dass sie sich schnell entscheidet, alles in sich hinein pumpen lässt, was den Krebs vernichtet - und dass sie das in München tut, bei ihr.
Die Zwillinge sprechen plötzlich nicht mehr dieselbe Sprache. „Du bist drin, ich bin raus“, schleudert Renate ihrer Schwester entgegen, „ich bin es, die nicht mehr mitmachen darf beim Leben." Immer hat sie Dinge, die für andere selbstverständlich waren, infrage gestellt. „Warum sollte ich jetzt, da ich krank war, damit aufhören?“
Ingrid fürchtet, dass Renate nicht kämpft. „Ich hatte eine Scheißangst, sie zu verlieren und allein übrig zu bleiben.“ Bei ihren Streitgesprächen schenken sich die Zwillinge nichts. „Ich war früher oft diejenige, die für uns beide entschieden hat“, sagt Ingrid, „jetzt musste ich kapieren, dass Renate das Auto selbst steuern muss. Ich konnte nur die Karte lesen.“ Sehr zögerlich rutscht Ingrid auf den Beifahrersitz.
Renates Welt wird immer kleiner
Sie fährt mit Renate zur ersten Chemotherapie. Die Schwestern sagen nie „Chemo“. Das klingt ihnen zu niedlich, zu harmlos für das, was die Medikamente mit dem Körper anstellen. „Die ersten ein, zwei Tage konnte ich mich ganz gut halten“, sagt Renate, „bis zum siebten Tag wurde es immer schlimmer.“ Dünn wie Zeitungspapier sind dann ihre Nerven, in ihrem Kopf toben Gewitter, Arme und Beine liegen kraftlos neben ihr, ihr Immunsystem macht schlapp, weil die weißen Blutkörperchen vernichtet werden. Einmal bekommt sie Fieber, muss ins Krankenhaus. Ein kleiner Schnupfen wäre jetzt eine Katastrophe. Auf der Isolierstation schottet man sie ab vom richtigen Leben mit seinen Viren und Bakterien. „Die haben mich eingeknastet“, sagt Renate. Ihre Welt wird immer kleiner.
Ingrid fährt zurück nach München, macht dort einen Termin beim Gynäkologen aus. Renates Ärzte haben sie auf ihr erhöhtes Brustkrebsrisiko als Zwillingsschwester und als kinderlose Frau hingewiesen. Der Ultraschall zeigt keine Auffälligkeiten, die Mammografie auch nicht. Wegen Renates Erkrankung schickt man Ingrid zur Magnetresonanztomografie. In der Röhre wird ein Karzinom in der rechten Brust entdeckt. Eineinhalb Zentimeter ist es groß. Zwei Monate nach Renates Diagnose steht Ingrid vor dem nächsten Abgrund. Ihre Angst wächst ins Unermessliche. „Ich habe dasselbe wie du“, sagt Ingrid am Telefon zu Renate. Die Schwestern sind wieder Zwillinge.
Renate hat gerade ihre zweite Chemotherapie hinter sich. „Immer, wenn man denkt, man hat das Schrecklichste schon erlebt, geht es weiter“, sagt sie, „und man muss in diesem Zug bleiben, man kann nicht aussteigen.“ Das Leben ist ein Horrortrip geworden.
Ingrid verabschiedet den Dämon
Ihre vollen, dunkelrot gefärbten Locken hat Renate verloren. Und sie hat sich zwei Perücken gekauft. Eine ist blond und glatt. „Das war eine Verzweiflungstat“, sagt sie, „wenn sich schon alles veränderte, dann wollte ich auch blond und glatthaarig sein.“ Ingrid lässt sich von derselben Ärztin operieren wie Renate. „Jetzt ging es nur noch darum, die Sache durchzustehen“, sagt sie. Die Medizinerin entfernt den Tumor. Lymphknoten sind nicht betroffen. Trotzdem soll Ingrid eine Chemotherapie machen. Sie hat an Renate gesehen, wie das ist, will sich der Tortur nicht aussetzen. Freunde geben Ratschläge, mit denen sie nichts anfangen kann. „Da habe ich gemerkt, was ich mit Renate gemacht habe“, sagt Ingrid. „Da hat sie gemerkt, dass jeder seinen eigenen Weg finden muss“, sagt Renate.
Als die USA ihren ersten schwarzen Präsidenten bekommen und in Deutschland der Begriff „notleidende Banken“ zum Unwort des Jahres gekürt wird, beginnt Ingrids Chemotherapie. Sie ist weniger aggressiv als Renates. Ingrid versucht, ihre Normalität zu retten, arbeitet zwischen den Zyklen vom Bett aus.
Am 11. Februar 2009 rinnt der letzte Chemiecocktail in Renates schwachen, ausgezehrten Körper. Ingrids Chemotherapie endet am 8. Mai. Als sie auch die Bestrahlungen hinter sich hat, lässt Renate sich ein Bad ein und sagt laut: „Ich hatte Krebs.“ Ingrid verabschiedet den Dämon, der das Leben der Zwillinge beherrschte, am 8. Juli.
Ingrid und Renate beginnen ihr neues Leben
Renate beginnt ihr neues Leben mit einer dreiwöchigen Rehabilitation im Schwarzwald, lernt Yoga und autogenes Training. Ingrid fährt eine Woche in ein Vier-Sterne-Wellnesshotel im Allgäu. Beide Frauen stellen ihr altes Leben auf den Prüfstand. Renate reduziert ihre Arbeitszeit um die Hälfte. „Ich erlege mir nichts mehr auf, was ich nicht will“, sagt sie, „nichts soll mehr selbstverständlich sein.“ Finanziell ist es jetzt manchmal eng bei ihr. „Aber Zeit kann man nicht bezahlen.“ Ingrid macht weniger Überstunden als vor ihrer Krankheit. „Ich lerne gerade, dass man fünf auch mal gerade sein lassen kann“, sagt sie, „und ich suche noch bewusster als früher das Schöne."
Die Angst, dass der Krebs wieder Anker in ihre Körper wirft, gehört zu dem neuen Leben von Renate und Ingrid. „Man darf ihr keinen zu großen Raum geben“, sagt Renate, „wir haben verstanden, dass wir nur dieses eine Leben haben. Es kommt kein zweites, das besser ist.“
Die Serie Lieblingsstücke
Der Originaltext „Aus dem Leben geschleudert“ von Gisela Schmidt ist im Juni 2011 erschienen.