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Bad Kissingen
Vertriebenensohn aus Bad Kissingen: "Wer kann es den Enteigneten verdenken"
Steffen Hörtler ist Landesobmann der Sudetendeutschen in Bayern, hat in Tschechien seine Liebe gefunden und leitet eine Begegnungsstätte. Was er als Aufgabe sieht.
Erst im vergangenen Jahr eröffnet: das Sudetendeutsche Museum in München. 
Foto: Sudetendeutsche Stiftung, Sebastian Weise | Erst im vergangenen Jahr eröffnet: das Sudetendeutsche Museum in München. 
Gerhard Fischer
 |  aktualisiert: 08.02.2024 13:56 Uhr

"Die Sudetendeutschen", das war einmal ein Schimpfwort auf tschechischer Seite. Auf der anderen haben Eigentumsansprüche der Vertriebenen jahrzehntelang den Dialog erschwert. Das Verhältnis ist heute viel freundlicher geworden. Begegnungen und kultureller Austausch tragen Früchte. Ein Gespräch mit dem Landesobmann der Sudetendeutschen in Bayern, Steffen Hörtler: 

Frage: Herr Hörtler, wenn Sie mit Ihrer Tochter in den Skiurlaub fahren, was ist Ihr bevorzugtes Reiseziel?

Steffen Hörtler: Da fahren wir selbstverständlich ins Riesengebirge. Wir haben dort ein kleines Haus und somit zwei Lebensmittelpunkte.

Woher kommt diese emotionale Bindung zu diesem Landstrich?

Hörtler: Ich bin in der DDR in Thüringen aufgewachsen, als Kind heimatvertriebener Eltern. Aber in der DDR durften die Heimatvertriebenen sich nicht als solche bezeichnen, sondern wurden schönfärberisch als „Umsiedler“ bezeichnet. Mein Vater, Jahrgang 1937, hat mit unserer Familie zahlreiche Reisen in seine Heimat unternommen und uns sein Elternhaus und Heimatdorf gezeigt.

Steffen Hörtler ist Stiftungsdirektor und Bildungsstättenleiter des Heiligenhofs in Bad Kissingen. Er ist stellvertretender Bundesvorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft.
Foto: Isolde Krapf | Steffen Hörtler ist Stiftungsdirektor und Bildungsstättenleiter des Heiligenhofs in Bad Kissingen. Er ist stellvertretender Bundesvorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft.
Sie selbst sind Geburtsjahr 1973. Die sudetendeutsche Geschichte haben Sie in diesem Sinne ja nicht erlebt. Warum trotzdem das Engagement?

Hörtler: Ich bin geprägt von den Erzählungen über die Heimat und die Vertreibung der Familie im Elternhaus sowie über die Reisen und Erkundungen in Böhmen, Mähren und Schlesien. Bei den politischen Umbrüchen 1989 in der DDR stand ich kurz vor dem Abitur, welches ich aber aus politischen Gründen wohl dort nie hätte machen dürfen. Gott sei Dank kam die Wende. Ich habe immer angenommen, dass man in der alten Bundesrepublik – ganz im Gegensatz zur DDR – offen über Geschichte reden durfte. Ich stellte aber schnell fest, dass man auch hier, zumindest in meiner Altersklasse, kaum etwas über die Vertriebenen wusste. Hinzu kam eine Fülle von Vorurteilen.

Wurde es nach der Wende besser?

Hörtler: In der Zeit der politischen Wende gelang es, in den neuen Bundesländern Landsmannschaften zu gründen. Mein Vater wurde Gründungsvorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft in Thüringen. Im Anschluss an mein Studium fand ich eine Anstellung als Heimleiter an der Begegnungsstätte Burg Hohenberg, einen Steinwurf von der tschechischen Grenze entfernt. Hier konnten wir durch deutsch-tschechische Begegnungen, vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit, neue Freundschaften schließen. Nicht zuletzt habe ich bei einer solchen Begegnung meine tschechische Frau Lucie kennengelernt. Wir sind seit 16 Jahren verheiratet und haben eine zwölfjährige Tochter.

Die ersten Nachkriegsjahrzehnte waren geprägt von Spannungen zwischen der damaligen Tschechoslowakei und Deutschland. Besitzansprüche der Sudetendeutschen und die leidvollen Folgen der Beneš-Dekrete erschwerten eine Annäherung.

Hörtler: Dem Unrecht, das das nationalsozialistische Deutsche Reich der Tschechoslowakei durch die Abtrennung der Sudetengebiete und der Errichtung des Protektorates Böhmen und Mähren angetan hatten, folgten unmittelbar nach Kriegsende Pogrome gegen die Sudetendeutschen, wilde und später „geordnete“ Vertreibungen. Rund drei Millionen Menschen wurden nahezu mittellos aus ihren Häusern und Höfen vertrieben, ihre Geschäfte, Handwerks- und Industriebetriebe enteignet. Ein Drittel der Sudetendeutschen strandete in Bayern, ein Drittel in den anderen westlichen Besatzungszonen, ein Drittel in der Sowjetisch Besetzten Zone.

In Zugwaggons wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Hunderttausende Vertriebene aus den sudetendeutschen Gebieten nach West- oder Ostdeutschland gebracht.
Foto: Archiv Main-Post Würzburg | In Zugwaggons wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Hunderttausende Vertriebene aus den sudetendeutschen Gebieten nach West- oder Ostdeutschland gebracht.
Haben die Beneš-Dekrete noch heute Wirkung?

Hörtler: Die deutschen Heimatvertrieben und Flüchtlinge sind nicht für kriegsbedingte Vermögensverluste entschädigt worden. Für den Kriegsausbruch und -verlauf tragen sie eher weniger Schuld als die Binnendeutschen. Wer kann es den Vertriebenen und Enteigneten verdenken, dass sie nicht auf ihren z.T. durch den Fleiß von Generationen erworbenen Besitz verzichten wollen? Eine kollektive Enteignung ohne individuelle Schuld ist und bleibt nicht rechtens. In den Beneš-Dekreten wird die kollektive Enteignung und Entrechtung der Deutschen gebilligt. Für Straftaten an Deutschen bis zum Mord wird Straffreiheit gewährt. Die Beneš-Dekrete haben Rechtsfolgen bis in die Gegenwart. Das tschechische Parlament hat vor einigen Jahren ein Gesetz verabschiedet mit dem einzigen Satz „Edvard Beneš hat sich um das Vaterland verdient gemacht.“ Das sehen wir Sudetendeutsche anders.

In den Jahren des Kalten Krieges waren Kundgebungen der Sudetendeutschen Landsmannschaft oft auch Provokationen für das CSSR-Regime. Was bedeutet es heute für Tschechen, eine sudetendeutsche Tracht zu sehen?

Hörtler: Noch vor wenigen Jahren war der Begriff „Sudety“ ein Schimpfwort. Das hat sich grundlegend geändert. Es gibt Initiativen wie Antikomplex, die sich der Geschichte sudetendeutscher Ortschaften gewidmet haben und in Vorher-Nachher-Fotodokumentationen den kulturellen Verlust durch die Vertreibung beklagen. Tschechische Ethnologen widmen sich der Erforschung von Trachten und Mundarten. In Aussig an der Elbe/Usti nad Labem entsteht ein "Museum Unserer Deutschen“, auf den Sudetendeutschen Tagen sind viele, insbesondere junge Tschechen vertreten. Ebenso beim jährlichen „Marsch des Lebens“ in Südmähren. Es gibt so gut wie keine gegenseitigen Provokationen mehr.  Der Umgangston ist heute freundlich.

Welchen Anteil am Aufbau Unterfrankens haben die Sudetendeutschen? Gibt es Zahlen, wie viele Menschen hier Aufnahme gefunden haben?

Hörtler: Die Flüchtlinge und Vertriebenen sind hauptsächlich in ländlichen Regionen untergebracht worden. Bayern hatte seinerzeit etwa acht Millionen Einwohner, davon je eine Million sudetendeutsche und schlesische Vertriebene. In Hammelburg war ein Ankunfts- und Verteilungslager für die Region. Vielfach erlebten die Vertriebenen keine freundliche Aufnahme. Ehen zwischen Einheimischen und Vertriebenen waren aufgrund des sozialen Unterschiedes noch rund zwei Jahrzehnte später kaum anzutreffen. Die Assimilation ist mittlerweile vollständig gelungen. Jeder Vierte in Bayern dürfte aus einer Vertriebenenfamilie stammen.

Die Generation der Vertriebenen wird bald ausgestorben sein. Endet damit der Daseinszweck der Landsmannschaft, wenn nur noch Nachfahren leben?

Hörtler: Die Landsmannschaften und die Heimatortsvereinigungen haben sich als sehr langlebig erwiesen. Aus Patenschaften bestimmter Ankunftsortschaften für die Sudetendeutschen sind Städtepartnerschaften geworden. Initiatoren und Motoren dieser Partnerschaften waren die Sudetendeutschen. Es sind Gruppierungen, die an unseren östlichen Nachbarländern besonderes Interesse haben, sich zivilgesellschaftlich, kulturell und sozial in Tschechien engagieren, etwa bei einzelnen Kirchen- oder Denkmalrenovierungen, beim Schüleraustausch, bei der Kooperation kirchlicher Gruppen, Feuerwehren etc. Die Sudetendeutsche Zeitung hat einen politischen Korrespondenten und mehrere Mitarbeiter in Tschechien. Wir haben einen schärferen Blick auf die Vorgänge und Entwicklungen in Tschechien als andere. Und wir sind heute die Fachorganisation bei allen Fragen rund um das Thema Tschechien.

2020 wurde in München das Sudetendeutsche Museum eröffnet. Es zeichnet die wechselvolle Geschichte des Vielvölkerstaates Böhmen nach mit seiner deutschen Siedlungsgeschichte bis zur Vertreibung. 
Foto: Bildrechte Sudetendeutsches Museum | 2020 wurde in München das Sudetendeutsche Museum eröffnet. Es zeichnet die wechselvolle Geschichte des Vielvölkerstaates Böhmen nach mit seiner deutschen Siedlungsgeschichte bis zur Vertreibung. 
Mitten in der Corona-Pandemie wurde im Oktober 2020 das Sudetendeutsche Museum in München eröffnet, auch Ihr Herzensprojekt. Warum sollte man es besuchen?

Hörtler: Es ist das letzte große Museum einer Vertriebenengruppe - einer Gruppe, die Bayern wirtschaftlich und gesellschaftlich mit modernisiert und zu einem Musterland gemacht hat. Es ist ein modernes Museum mit einer avantgardistischen Architektur und zeitgemäßen Präsentation. Es wird das jahrhundertelange gute Zusammenleben zweier Sprachgruppen innerhalb des Böhmischen Königreiches dokumentiert, aber auch die Gründe für das Ende und Zerwürfnis. Es soll Wunden heilen, aber auch von einer mit Deutschland eng verbundenen Geschichte und gemeinsamen Kulturleistungen zeugen.

Die demokratischen Jahre in Tschechien und der Slowakei haben auch dort zum Überdenken alter Urteile geführt. Wie sehen Tschechen und Slowaken heute die Geschichte der Sudetendeutschen?

Hörtler: Die Eliten bedauern das Ende eines „Vielvölkerstaates“, in dem es gegenseitigen Handel und Wandel, Mehrsprachigkeit, kulturelle Konkurrenz und Befruchtung gab. In der Zwischenkriegszeit war die Tschechoslowakei eines der reichsten und am besten aufgestellten Länder Europas. Die Deutschen, die überwiegend in den Randgebieten siedelten, waren Pioniere der Industrialisierung und des Fortschritts. Heute ist Tschechien wirtschaftlich so verzahnt mit Deutschland, dass es fast als Bundesland gesehen werden kann. Der Handel mit Tschechien ist größer als der mit Russland.

Die Bildungsstätte Heiligenhof in Bad Kissingen der Sudetendeutschen Landsmannschaft.
Foto: Archiv Isolde Krapf | Die Bildungsstätte Heiligenhof in Bad Kissingen der Sudetendeutschen Landsmannschaft.
„Alles Leben ist Begegnung“ ist das Motto des Heiligenhofes, der von Ihnen geleiteten Bildungsstätte in Bad Kissingen. Klingt nach dem Schlüssel zur Versöhnung.

Hörtler: Versöhnung ist ein individuelles Handeln, das individuelle Schuld voraussetzt. Individuelle Schuld hat die heutige Generation nicht auf sich geladen. Aber Verständigung, Begegnung, Kennenlernen, Verstehen usw. ist uns in unserer täglichen Arbeit unser genuines und sicher nie abgeschlossenes Anliegen.

Steffen Hörtler

Steffen Hörtler ist stellvertretender Bundesvorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft und Landesobmann der Sudetendeutschen in Bayern. Er leitet die Bildungs- und Begegnungsstätte Heiligenhof in Bad Kissingen, die sudetendeutsche sowie deutsch-tschechische Begegnungen organisiert. Hörtler ist Ortsvorsitzender der Bad Kissinger CSU und sitzt für die Partei auch im Stadtrat. Der 48-Jährige ist mit einer Tschechin verheiratet und Vater einer zwölfjährigen Tochter. Sein Vater Otto Hörtler stammt aus Blottendorf, Kreis Böhmisch Leipa in Nordböhmen und landete nach der Vertreibung in Thüringen. Mutter Monika stammt aus Oberschlesien.
www.heiligenhof.de
www.sudetendeutsches-museum.de 
(fg)
 
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  • jebusara@web.de
    Zitat: Individuelle Schuld hat die heutige Generation nicht auf sich geladen.

    Ist das so?

    Diese "individuelle Schuld" haben wohl nur wir Deutschen auf uns geladen. Darum wirft man stets mit der Nazikeule nach uns und erinnert an die Schuld für die wir, die Generationen lange nach dem Krieg, nichts können.
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  • schwabayer
    Besonders schockierend bei meinen ersten Besuchen in sudetendeutschen Gebieten empfand ich die vielen geschändeten Gräber, wo fast alle deutschen Inschriften ausgekratzt oder unkenntlich gemacht wurden.
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