Silberbach. Der schönste Name, den ein Ort haben kann. Eine unerfüllte Verheißung liegt darin. Ein Schatz irgendwo am Grund, der nie gehoben wird. Klares, ungetrübtes Wasser. Silberbach! Silberbach ist die Heimat meines Vaters, meiner Familie. Wer den Ort heute finden will, der muss nach Stríbrná suchen.
Stríbrná und Silberbach sind ein Ort und zwei zugleich. Das Silberbach, von dem in der Familie immer erzählt wurde, war ein Ort von ein paar Tausend Einwohnern im Egerland. Viele Böhms wohnten hier, ein paar Angers, Wenzs und Fischers. Undurchdringlich waren die Nadelwälder um den böhmischen Ort, die hinüber ins Erzgebirge zogen. An der Natur waren die Landstriche nicht zu unterscheiden. Der Dialekt markierte die Grenze zwischen dem Sächsischen und dem Egerländischen. Nicht weit entfernt lag Graslitz, das jetzt Kraslice heißt. Dort lernte mein Vater das Handwerk des Musikinstrumentenmachers. Klarinetten und Saxofone wurden bei der Firma Keilwerth gebaut. Bis der Krieg kam.
Die alten Geschichten von vielem Schnee und dem Rohrstock
Jetzt, wo ich selbst über 50 Jahre bin, ärgert es mich, dass ich mir so wenige Geschichten gemerkt habe, die der Vater immer erzählt hatte. Wie er als Kind unter dem Dachboden schlief, auf Säcken aus Stroh. Wie der strenge Winter meterhoch den Schnee türmte, durch den er als kleiner Bub immer zur Schule stampfen musste.
Meine Mutter, die aus dem Nachbarort Schwaderbach stammte, der direkt an der sächsischen Grenze lag, bekam den Rohrstock zu spüren, weil die Lehrerin ihren Frust grundlos stets an ihr ausgelassen hatte. Wer Schwaderbach heute finden will, sucht nach Klingenthal im Erzgebirge und schaut auf Google Maps nur ein wenig nach Südosten. Bublava mit seinen wenigen Häusern wacht nur im Winter auf, wenn die Skitouristen aus dem Erzgebirge oder aus Karlsbad sich ein wenig Pistenspaß gönnen.
Die eigene Heimat und das Daheim der Eltern
Geboren und aufgewachsen bin ich in Münnerstadt im Landkreis Bad Kissingen. Ob es meine Heimat ist, kann ich bis heute nicht wirklich sagen. Denn wenn in der warmen Küche die Verwandten zu Besuch kamen, der Waldhüter-Bepp oder die Tante Lori, um im Dialekt der verlorenen Heimat die alten Geschichten aus Silberbach zu erzählen, dann haben Vater und Mutter immer von "daheim" gesprochen. Daheim waren die Wälder schöner, die Menschen knorrigere Gestalten, alles irgendwie wohliger. Mein Münnerstädter Geburtsort ist meine mit einem kleinen Makel belegte Heimat. Denn daheim ist man nur, wo alle zusammen daheim sind.
Ein Dialekt verschwindet langsam
Wie lange noch werden Menschen den Dialekt sprechen, den meine Eltern gelernt haben? Der böhmische Einschlag ist unverwechselbar. Die Tomaten sind die Paradeiser, die Orange war schon immer die Pomeranze. Sonntags gab es zum Schweinebraten oftmals "Bumberskraut", ein Weißkohl-Gemüse. "Quadschler" waren Suppenbeilagen ähnlich einem Kartoffelpuffer, und die Frikadellen waren die "Karbonader". Als ich vielleicht 14 Jahre alt war, besorgten wir eine Tonbandkassette mit Dialektaufnahmen: "Uam on der Ewening wobbüd a Bäätz". Auf Hochdeutsch heißt das "Oben an der Decke krabbelt ein Käfer". So wurde gesprochen, als Silberbach noch eine deutsche Gemeinde war.
Trennung von Daheim und ein Neuanfang
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Tschechoslowakei gegründet mit den Sudetendeutschen als Minderheit. Vor dem Krieg war die Habsburger Monarchie ein Vielvölkerstaat, in dem Deutsche, Tschechen, Slowaken, Rumänen und Ungarn manchmal besser, manchmal schlechter zurechtkamen. Schmelztiegel der Nationen nennt man so etwas. Es gibt Bilder von Adolf Hitler, als er 1938 das von den Nazis besetzte Kraslice/Graslitz besuchte. Die Sudentendeutschen waren "heim ins Reich" gebracht worden. Ein paar Jahre später musste mein Vater in den Krieg ziehen, gerade einmal 15, 16 Jahre alt. So verlor er seine Heimat.
Mein Vater geriet in französische Kriegsgefangenschaft. Er arbeitete auf einem Bauernhof - unweit der Münnerstädter Partnerstadt Stenay. Mit Anfang 20 habe ich den Bauernhof besucht. Alle kannten sie noch "Erich", den "prisonnier de guerre". Aus Silberbach waren die meisten Deutschen vertrieben worden, aber nicht alle. Und deshalb ist meine Familie eine geteilte. Bis heute.
Die so genannten Beneš-Dekrete, die die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der zweiten Tschechoslowakischen Republik "regelten", bedeuteten für die überwiegende Zahl der Deutschen das leidvolle Ende eines Lebens in ihrer angestammten Heimat. Doch einige Sudetendeutsche, die entweder als Fachleute gebraucht wurden oder die nie aufseiten der Nazis gestanden haben, durften bleiben.
Klara und Josef, meine Großeltern väterlicherseits, blieben in der Tschechoslowakei. Mit ihnen wuchsen meine Onkel Heinz und Günter und meine Tanten Heidi und Christa unter Tschechen auf. Meinen Vater aber hat es nach Münnerstadt verschlagen, wo schon viele andre Vertriebene aus Silberbach nach den Wirren des Krieges Obdach fanden. Erst in den Sechzigern kam auch mein Onkel Heinz nach Münnerstadt - und blieb.
Der tschechische Friedhof mit den deutschen Gräbern
In Stríbrná, gleich hinter der alten Kirche, liegt an einem Hang der alte Friedhof. Auf den Gräbern stehen tschechische Namen, auf den alten Kreuzen aber auch viele deutsche. Auf einem dieser Gräber stehen die Namen von Josef Fischer und Klará Fischerová. An meinen Großvater erinnere ich mich nicht. Von meiner Oma habe ich nur die schmalen Gesichtszüge in Erinnerung. Mit im Grab liegt Petr Necas, der slowakische Mann meiner Tante Heidi. Über die Gräber bläst der Wind zwischen dem Erzgebirge und dem Egerland hin und her.
Die Besuche mit der Angst im Nacken
Drei Stunden Fahrt vielleicht waren es von Münnerstadt zum Grenzübergang bei Cheb/Eger. Eine ewig lange Zeit als Kind. Dann kamen die Momente echter Angst. Grenzkontrolle, tschechische Grenzsoldaten in graubraunen Uniformen. Eine unverständliche Sprache mit harten Konsonanten. Furchteinfößende Blicke. Einmal blieb mitten im Niemandsland zwischen den Posten das Auto stehen. Ich glaube, ich habe geweint vor Angst, das könnte Gefängnis bedeuten.
So besuchten wir alle Jahre "die Tschechen", meine deutschstämmige Verwandtschaft. Es ging immer vorbei an Falkenau/Sokolov mit seinem Tagebau und dem Gestank nach sozialistischer Braunkohle. Kilometerlang ging es durch Wälder, bis die graue Stadt Kraslice erschien und Stríbrná. Ich war eine willkommene Abwechslung für die Freunde meiner etwa gleichaltrigen Cousins Tomáš, Günter, Petr und René. Viel geblieben war von Silberbach nicht. Rund 3550 Bürger hatte man 1930 gezählt, Ende der Siebzigerjahre dürften es um die 600 gewesen sein, darunter viele Umgesiedelte aus anderen Gebieten der Tschechoslowakei. Viele Häuser waren im Verfall begriffen. Im Dorfkern kauften wir beim Konsum Karlsbader Obladen, billigen Krimsekt und Räucherwurst als Mitbringsel. Wenn es wieder nach Deutschland ging, hat die ganze Familie "gegreint", im Abschiedsschmerz geweint.
Vollauf beschäftigt mit der Wendezeit
So wurde ich erwachsen mit Besuchen bei meiner zweigeteilten Familie. Die Wende kam, die Grenzen nach Osten wurden durchlässig, Tschechen und Slowaken gingen bald getrennte Wege. Als der Weg nach Silberbach also frei wurde, schliefen die Besuche ein. Die Deutschen hatten mit der Wiedervereinigung zu tun, die Tschechen mussten ihr Land umgestalten und Arbeit finden, als die Staatsbetriebe abgewickelt wurden. Die Cousins fanden erste Jobs in Deutschland, die Tante betreute eine Seniorin im Allgäu, der Onkel schuftete im städtischen Bauhof von Kraslice.
Zwei Völker sind sich wieder nähergekommen
So wuchs Europa zusammen - auf der großen politischen Bühne des Kontinents und in meiner kleinen Welt am Rand der Karlsbader Region. Vielleicht ist aber Zusammenwachsen nicht der richtige Begriff. Die Dinge verwischen sich, lösen sich auf. Tanten und Onkel beherrschen noch den deutschen Dialekt, mit dem sie groß geworden sind. Bei den Cousins sind es nur ein paar Brocken Deutsch, bei deren Kindern spielt die deutsche Sprache schon keine Rolle mehr. Dafür führen die Wander- und Radwege zwischen dem Erzgebirge und Böhmen munter über die Grenzverläufe hinweg. Als Sachsen und Tschechen im Corona-Lockdown plötzlich wieder getrennt waren, winkten sich die erzgebirgischen Nachbarn über die heruntergelassenen Schlagbäume zu.
Wie es der tschechischen Hälfte meiner Familie geht, erfahren wir durch Telefonate. Auf Facebook sehe ich, wie die Enkelkinder von Onkel und Tante groß werden und wie sie in Stríbrná ihre kleinen Dorffeste feiern. Am Skihang von Silberbach und Schwaderbach, wo mein Vater als junger Bursche die ersten Schwünge zog, haben sie jetzt eine Abfahrts-Strecke für Mountainbiker in die Wiesen gezogen. Ich werde sie mit dem Sohn irgendwann ausprobieren. Und Karlsbad ist eigentlich nur ein Katzensprung entfernt. Die Heimat meines Vaters liegt nicht allzu weit weg. Auch wenn es ihm mit seinen 93 Jahren genügt, sie nur noch im Herzen zu tragen.
Unser Autor, Jahrgang 1969, ist Redakteur in Rhön-Grabfeld. Geboren wurde er in Münnerstadt, wo eine ganze Reihe von Vertriebenen aus Silberbach und Umgebung untergekommen ist. Die sudetendeutsche Geschichte seiner Familie hat ihn mal mehr, mal weniger beschäftigt. Heute urlaubt er gerne auch in Tschechien. Ein Verwandtenbesuch gehört dann stets dazu.
Aufgehorcht habe ich, wenn ich nach dem Tod der Eltern hier und da unterwegs Menschen die Sprache sprechen hörte. Den Einen oder Anderen habe ich sogar angesprochen und ich merkte, dass man sich alleine über die Sprache vertraut war.
Schöne Erzählung, danke!
Egal was hier manche zu meckern haben - ich finde Berichte über früher total interessant, bitte macht weiter damit!