Es war ein kalter Winter in der Nachkriegszeit und Weihnachten stand vor der Tür. Wir, das heißt meine Mutter Ursel, mein sechsjähriger Bruder Erich und ich, gerade mal acht Jahre alt, wohnten damals in einem kleinen, aber gemütlichen Behelfsheim mit drei Zimmerchen am Parkfriedhof.
Unsere Mutter, die eine leidenschaftliche Bäckerin war, hatte mit ihren geringen Mitteln in der winzigen Küche ganze Bleche voll der leckersten Plätzchen aller Sorten gezaubert. Erich und ich bekamen jeder einen gehäuften Pappteller voll, den er sich selbst nach seinen Vorlieben zusammenstellen durfte. Als köstlicher Weihnachtsvorrat stand er links und rechts auf den Nachtkästchen neben unseren Betten.
Doch seltsam: Während Erichs Teller nur langsam abnahm, schwand mein Schatz in auffallender Weise von Tag zu Tag – besser: von Nacht zu Nacht. Nur ein paar verräterische Krümel zeigten, dass hier ein heimlicher Dieb am Werk sein musste. Eigentlich kam als einziger Zimmergenosse nur mein kleiner Bruder Erich in Betracht, der mit selig-unschuldiger Miene neben mir schlummerte.
Mir blieb nichts anderes übrig, als mich auf die Lauer zu legen. Also spielte ich mit leichtem Schnarchen den Schlafenden und blinzelte gelegentlich hinter meinen Wimpern hervor. Und richtig: Was war das? Ein leichtes Rascheln, aber Erich lag doch neben mir. Wer um Himmels willen konnte es denn dann sein?
Angsterfüllt tastete ich nach dem Schalter des Nachttischlämpchens. Ein beherzter Druck und im hellen Lichtkegel starrte mich ein erschrockenes Mäuschen an. Mit einem markerschütternden Schrei fand ich mich zwei Sekunden später hinter dem Bett wieder. Meine alarmierte Mutti Ursel und mein wie immer besonnener Bruder Erich sprachen beruhigend auf mich ein und halfen mir, mich allmählich aus der Schockstarre zu lösen.
Mein Bruder, der von all meinen stillen Verdächtigungen nichts ahnte, gab mir rührender Weise von seinem Plätzchenteller ab, um mich zu trösten und den Verlust auszugleichen. Beschämt nahm ich die Gabe an.
Nachtrag: Die Geschichte hat ein zweites, spätes Happy End. Der Verfasser ist mittlerweile stolzer Besitzer mehrerer Katzen, die ihm regelmäßig als kleine Liebesgaben Mäuse ins Haus bringen. Da darf es kein langes Zögern geben, sondern flugs ein Handtuch drüber werfen und zurück in die Freiheit tragen. Auch sie sind – im rechten Licht betrachtet – liebenswerte, possierliche Geschöpfe.
Text: Dr. Michael Peter
Foto: Daniel Peter / Montage: Heike Grigull
Dr. Michael Peter (80) aus Bad Kissingen war Lehrer am Jack-Steinberger-Gymnasium und ist Ehrenvorsitzender der Europa-Union.
In der Kolumne "Kissinger Adventskalender" schreiben Menschen aus dem Landkreis Bad Kissingen Anekdoten und Gedanken rund um Advent und Weihnachtsfest.