
Der 11. September 2001 hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. Ich weiß noch ganz genau, wo ich war, als meine Frau anrief und sagte: "Das World Trade Center brennt". Ich war damals Sportredakteur in Bad Kissingen, es war nachmittags um 14.46 Uhr, als das erste von zwei Flugzeugen von Boston kommend in einen der beiden Türme des World Trade Centers flog, dort explodierte.
Als ich zu Hause war, lief der Fernseher natürlich. Wir saßen auf der Couch, wir weinten, wir waren schockiert, paralysiert. Wir sahen die Gebäude einstürzen, wir sahen Menschen aus den Fenstern im 100. Stock springen. Wir sahen wie ein weiteres Flugzeug in das Pentagon in Washington, D.C., flog. Wir hörten vom Absturz der Maschine in Shanksville. Wir wussten: Dieser Tag hat die Welt, wie wir sie kannten, verändert.
Warum hat uns gerade dieser Terroranschlag in dieser Stadt so getroffen? Die USA und vor allem New York City sind seit den 1990er Jahren zweite Heimat. Wenn man mich fragt, wo ich mich zu Hause fühle, würde ich immer sagen: In unserem Haus in Münnerstadt, bei unseren Freunden. Wenn man mich fragt, wo ein Teil meines Herzens ist, dann wäre das immer New York City. Die Stadt, die man nur Schwarz oder Weiß sehen kann, die man hasst oder liebt. In der meine Frau und ich, alle Aufenthalte seit 30 Jahren zusammengenommen, mehrere Monate verbracht haben.
High School Abschluss 1991 an einer amerikanischen Schule
1991 habe ich an der Linton High School in Schenectady, N.Y., Abitur gemacht. Es war eine prägende Zeit für mich, mit Freundschaften fürs Leben, die bis heute gehalten haben. Im November 2001 war das erste Klassentreffen - zehn Jahre nach unserem High-School-Abschluss. Die Flüge waren gebucht, der Urlaub geplant, Freunde aus Deutschland kamen auch noch mit. Dann kam der 11. September und alles war anders.

Ich habe den ganzen Nachmittag versucht, meinen besten Freund Colin zu erreichen. Als wir endlich durchkamen, sagte er sofort: "Klar kannst du kommen." Und wir wussten, dass wir nicht nur fliegen können, sondern auch mussten. Es gab nie Zweifel daran, dass wir wie geplant acht Wochen später ins Flugzeug steigen und nach New York - in unsere Stadt - fliegen würden. Auch wenn – wir waren damals Mitte 20 – unsere Eltern natürlich mäßig amüsiert über den Plan waren.
In der Zwischenzeit bis zu unserem Abflug wurde immer klarer, was passiert war: El-Kaida, Osama bin Laden, die Hamburger Terrorzelle um Mohammed Atta, der sich abzeichnende Krieg gegen die Taliban in Afghanistan, der erst kürzlich unrühmlich endete. Es war schon merkwürdig, ausgerechnet mit "American Airlines" zu fliegen, einer der beiden Fluggesellschaften, deren Maschinen entführt und als fliegende Bomben benutzt wurden.

Die Zeitungen von damals habe ich gesammelt und mir jetzt wieder die Titelseiten von "Main Post", "Süddeutscher Zeitung" und "Spiegel" angeschaut. Und die Bilder, die wir damals gemacht haben vor Ort. Die Gänsehaut ist damals wie heute gleich. Als wir ankamen, war der erste Weg nicht zum Ground Zero, wie das Gelände nach den Anschlägen genannt wurde. Wir mussten uns herantasten an unsere Stadt, erfühlen, wie es ihr geht.
New York war noch in den 1990er Jahren eine gefährliche Stadt. Es war keine gute Idee, sich nachts im Central Park aufzuhalten, und wer zwei Mal falsch vom Times Square abbog, war mitten im Rotlichtviertel. Erst Anfang der 2000er änderte sich das, als der Disney-Konzern begann, am Times Square zu investieren.
Der New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani wurde als Held gefeiert
Der damalige New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani – der als Trump-Vasall 2021 auf die Trümmer seiner Karriere blickt – war 2001 ein Held. Er hatte die Gewalt in der Stadt in den Griff bekommen und er hatte ihr auch nach den Anschlägen eine Zuversicht und Zukunftshoffnung trotz all des Schmerzes und Leids gegeben. Im übrigen ist es genau diese Fähigkeit New Yorks, sich ständig neu zu erfinden, die die größte Stadt der USA auch die Corona-Pandemie hat überleben lassen.

Was sofort auffiel im November 2001: New York City schläft nicht, da hat Frank Sinatra durchaus Recht in seinem Song. Rund um den Times Square, in den Museen, bei den Sportveranstaltungen oder im Central Park war für Touristen von den Anschlägen nichts zu spüren.
Doch je näher man der Südspitze von Manhattan kam, desto beklemmender wurde das Szenario. Die Freiheitsstatue war gesperrt, die Fähren fuhren eingeschränkt, die U-Bahn ebenso - es war ja alles nach dem Einsturz der beiden Türme zerstört.

Die Zäune säumten Botschaften, Blumen und Briefe
Wir sind von Midtown in Manhattan aus zum Ground Zero gelaufen - auf den Straßen, auf denen am 11. September die Menschen in Panik vor der riesigen Staubwolke flüchteten. Auf einmal waren überall an den Zäunen Botschaften zu sehen, Blumen, Briefe. Und herzzerreißende Suchmeldungen nach Angehörigen, die seit dem 11. September verschollen waren, nicht nach Hause kamen.
2996 Menschen starben bei den Anschlägen in New York, Washington und bei dem Flugzeug-Absturz in Shanksville, die meisten in New York: 2763 Menschen, davon 343 Einsatzkräfte der Feuerwehr, 37 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hafenbehörde und 23 Polizeikräfte. Wir sind an einem Feuerwehrhaus vorbeigelaufen, wo die Bilder von 20 toten Einsatzkräften der Feuerwehr hingen. In der ganzen Wache waren 30 Personen stationiert.

Zahlen sind das eine. Sich klar zu machen, welche Schicksale dahinter stehen, das andere. Durch den Einsturz der beiden Türme, der alleine rund 1900 Menschen in den Tod riss, wurden die Körper regelrecht zu Staub zermahlen. Jahrelang lief die forensische Suche nach DNA in den Trümmern. Bis heute fehlt von 1108 der 2763 Opfer jede Spur.
Der Geruch in den Straßen hat sich bis heute eingeprägt
Man konnte damals erstaunlich nahe an das Areal herankommen, die Gerippe der beiden Türme standen noch. Den Geruch werden meine Frau und ich wohl nie vergessen. Es war eine Mischung aus Beton, Asbest, Stahl, Staub und - auch wenn es pathetisch klingt - Tod. Rund um Ground Zero waren die Hochhäuser, die nicht zerstört waren, bereits vom Staub gereinigt worden, die Straßen auch. Es war surreal, zumal wenige Tage später die berühmte Macy's Parade zum amerikanischen Feiertag Thanksgiving stattfand, als wäre nichts passiert.
Im Hintergrund war das World Financial Center mit seiner markanten bogenförmigen Glasfassade ebenfalls völlig zerstört. Wir hatten das Gebäude bei unserer vorherigen USA-Reise besichtigt, als es noch ein Insidertipp war - wegen des Cafés mit Blick auf den Hudson River.
Ein Blick durch die US-Brille schadet nicht
Vor dem markanten Gerippe der zerstörten Türme am Ground Zero hatte kurz nach dem 11. September der damalige US-Präsident George W. Bush den Bürgerinnen und Bürgern Trost zugesprochen - und Rache geschworen. Es ist wichtig für die Beurteilung der Reaktion der US-Regierung, sich die Bilder vom Ground Zero zu vergegenwärtigen, ein bisschen eine US-Brille aufzusetzen. Der "Spiegel" schrieb damals mit dem Duktus, die USA hätten für ihre verfehlte Außenpolitik und den ersten Irakkrieg die Quittung bekommen. Das mag politisch richtig analysiert sein. Es berücksichtigt aber nicht, dass bei dem Terroranschlag völlig unschuldige Menschen starben, die in einem damals schon wegen George W. Bush gespaltenen Land durchaus nicht alle der Meinung waren, die Politik der Regierung sei richtig.

Vor einigen Jahren las ich eine Analyse in der "New York Times", in der die These diskutiert wurde, was passiert wäre, wenn man wie 1993, als eine Autobombe in der Tiefgarage des World Trade Centers explodierte, dem FBI die Ermittlungen komplett überlassen hätte. Wenn man nicht in den Krieg gezogen wäre, sondern die Bundespolizei hätte ermitteln lassen und die Terroristen vor Gericht gestellt hätte. Wäre die Welt heute eine bessere? Wahrscheinlich.
Auch nach 2001 waren meine Frau und ich weiter regelmäßig in New York, zuletzt 2016. Seit eineinhalb Jahren ist es wegen der Pandemie nicht mehr möglich, als Tourist einzureisen. Wir haben uns vor fünf Jahren wie immer mit meinem Freund getroffen, waren auf dem jetzt One World Trade Center genannten Neubau auf dem ehemaligen Ground Zero, waren in dem bemerkenswert würdevollen Museum, in dem alle Opfer mit Bild und Namen gewürdigt werden und der Fokus darauf liegt, deren Leben zu ehren und nicht die Attentäter in den Vordergrund zu stellen.
Später standen wir an den Wasserbassins, wo einstmals die beiden World-Trade-Center-Türme standen. Auf einmal deutete unser Freund auf einen Namen, der am Rand eingraviert ist. Alle Opfer stehen hier namentlich, oft sind Blumen abgelegt. Es war ein Freund seines Bruders, der bei dem Terroranschlag starb. Da war er wieder, der Schmerz von 2001. Er wird nie weggehen.