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WIen/Hammelburg
Holocaust-Überlebender aus Hammelburg feiert in Wien seinen 100. Geburtstag 
Grund zum Feiern hat Alfred Stühler in Wien. Er erwartet am Sonntag viele Gäste. Warum er an seine Heimatstadt schöne und bittere Erinnerungen hat.     
Bei seinem jüngsten Besuch in Hammelburg im Jahr 2013 suchte Alfred Stühler das Gespräch mit Einheimischen. 
Foto: Roland Pleier | Bei seinem jüngsten Besuch in Hammelburg im Jahr 2013 suchte Alfred Stühler das Gespräch mit Einheimischen. 
Wolfgang Dünnebier
 |  aktualisiert: 10.05.2023 09:33 Uhr

Fern seines Geburtsortes Hammelburg begeht Alfred Stühler am 5. März sein rundes Wiegenfest in Österreich. Dass er jetzt in Wien lebt, hatte einst traurige Gründe: Mitbürger hatten ihm und seiner Verwandtschaft seinerzeit, während der Nazi-Diktatur, wie anderen Juden und Jüdinnen auch, übel mitgespielt.              

Das Elternhaus zerstört

Mit gemischten Gefühlen erinnert er sich deshalb an die Saalestadt. Beim Pogrom im Jahr 1938 war sein Elternhaus in Hammelburg zerstört worden. Die dunkle Wolken des Dritten Reiches waren schon über der Saalestadt aufgezogen. Dabei hatte Stühler aus der Zeit davor viele schöne Erinnerungen gehabt.

Hammelburg trägt Stühler aber auch heute noch in seinem Herzen, sagt er im Gespräch mit dieser Redaktion. Das war auch der Grund, dass er nach der Befreiung der Saalestadt in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts mehrfach nach Hammelburg zurückkehrte. Hier pflegte er ausgewählte Kontakte und suchte gelegentlich das Gespräch mit Einwohnern und Jugendlichen, um vor den Gefahren des Rechtspopulismus zu warnen.         

"Über Nacht die Jugend aufgehetzt"

Eindrucksvoll erzählte er etwa im Jahr 2013, bei einem Auftritt am Frobenius-Gymnasium, von seiner Jugend. "Über Nacht wurde die Jugend von den Nazis aufgehetzt gegen Juden und andere Systemkritiker", berichtete er damals. "Doch einige meiner Mitschüler waren gut zu mir", erinnerte er sich dankbar. Mit seinem Freund Georg Väth habe er das Pausenbrot geteilt.       

Doch das Klima unter den Einwohnern verschlechterte sich damals zusehends. Deswegen ging er 1938 nach Frankfurt, um eine Schlosserlehre zu beginnen. Bei den dortigen Pogromen bekam er einen Faustschlag ab, erzählte er. Doch auch aus der Heimat ereilten ihn ganz schlechte Nachrichten.

Flucht nach Palästina

Sein Vater,  der Viehhändler Stühler, war für zwei Wochen in Dachau inhaftiert gewesen. Kahlgeschoren war damals zurückgekehrt. Wegen der zunehmenden Repressalien und der Übergriffe auf die Verwandtschaft beschlossen die Eltern dann schließlich, nach Palästina zu fliehen. Das Haus verkauften sie unter dem Druck unter Wert. Stühlers Großmutter Jette Stühler starb 1942, zwei Wochen nach der Deportation aus einem Würzburger Altenheim, in Theresienstadt.                  

Jüdische Kinder 1935 vor der  Hammelburger Synagoge. Rechts im Bild Alfred Stühler.
Foto: Geschichtsverein | Jüdische Kinder 1935 vor der Hammelburger Synagoge. Rechts im Bild Alfred Stühler.

Nach  der Flucht und der Zeit beim Militär und Ausbildung in der Landwirtschaft bei Tel Aviv landete Alfred Stühler in Wien. 1950 heiratete er die Österreicherin Gerda Schöps aus der österreichischen Hauptstadt. 1952 brachte sie Sohn Gideon zu Welt. 1954 zog die junge Familie Stühler ganz nach Wien, um dort in die Textilfirma der Schwiegereltern einzusteigen. 1958 wird Tochter Ruth geboren. Mit seiner zweiten Frau bekam Stühler 1968 Sohn Jan.

Zeitweise bis zu 1200 Mitarbeiter

1989 stieg Alfred Stühler aus der Firma aus und verkaufte seine Firmenanteile. Das Unternehmen hatte mit Filialen zeitweise bis zu 1200 Mitarbeiter, erzählt Stühler im Gespräch mit dieser Redaktion. Er sei auch ein Familienmensch. Bis zuletzt habe er Kontakt zu seinen drei Schwestern und deren Kindern gehabt. Er ist der einzige unter den Geschwistern, der den 100. Geburtstag erlebt, betont er.
Seine Mutter und die beiden Schwestern in England wurden aber immerhin auch 99 Jahre alt.
Alfred Stühler hat sechs Enkel und vier Urenkel.

Späte Rückkehr in die Heimat

Lange Zeit sei er nicht nach Hammelburg zurückgekehrt. Dann besuchte er Hammelburg gleich mehrfach. Erstmals konfrontierte er sich hier mit seinen schlechten  Erinnerungen im Jahr 1960. "Das war schon ein  komisches Gefühl", erzählt er auf telefonische Nachfrage der Redaktion. Mit gesenktem Blick  sei er bei Dunkelheit an einem ehemaligen Nachbarn in der Kissinger Straße vorbei gegangen, um nicht erkannt zu werden. Umso lieber habe er sich mit seinem ehemaligen Schulfreund Georg Väth getroffen.

Auch auf dem Weg zu seinen Schwestern in England kam er gelegentlich in Hammelburg  vorbei. Er traf hier immer seinen Klassenkameraden Arnold Samuels, einen Leidensgefährten aus Kindheit und Jugend, der jedoch im Jahr 2020 starb. 1995 besuchte Stühler mit Schwester Toni Hammelburg auf Einladung der Stadt und trug sich ins Goldene Buch der Stadt ein.

Feier mit 25 Gästen

Bei einigen Besuchen hielten er und Arnold Samuels Vorträge am Hammelburger Gymnasium. Sein letzter Besuch ist schon länger her. Sein ehemaliges Elternhaus hat er mehrmals besucht und mit den neuen Besitzern gesprochen, erzählt er. Wenn er zum Übernachten im Deutschen Haus abstieg, hatte er einen bewegenden  Ausblick aus dem Fenster. Denn von dort blickte er auf sein ehemaliges Elternhaus.  

Zuversichtlich schaut Stühler jetzt auf seinen 100. Geburtatg. "Es geht mir gut", sagte er. Feiern wolle er am Sonntag mit seinen 25 Gästen im engeren Familienkreis. "Gerne hätte ich mehr Freunde aus England eingeladen, aber da wäre der organisatorische Aufwand doch etwas groß geworden", lässt er wissen. Stühler lebt mit Lebensgefährtin Annemarie Harrer in Wien in seinem Haus.    

In einem Interview dieser Zeitung hat Stühler bei seinem Besuch im Jahr 2013 auf die Frage geantwortet, ob je jemand in Hammelburg Reue gezeigt habe. "Reue? Das Gespräch wird allgemein gemieden". Innerlich fühle er sich als israelischer Staatsbürger. Und zu seinem Erleben mit der deutschen Jugend gab er sich auch nach seinen Eindrücken an den Schulen versöhnlich: "Ganz fantastisch. Die heutige Jugend ist ganz anders. Ich könnte mir nicht vorstellen, dass ich mit jemandem böse sein könnte".        

 
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