
Wesentlich mehr Glück als das Publikum der Veranstaltung "Klassik am Odeonsplatz" hatten die Besucher und Besucherinnen im ausverkauften Max-Littmann-Saal beim Kissinger Sommer: Sie bekamen zwei Tage nach einem wetterbedingten Konzertabbruch in München das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter seinem neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle mit dem gleichen, jedoch kompletten Programm zu hören und hatten es auch noch trocken und warm. Was man da erlebte, war ein großartiges Plädoyer fürs Live-Erlebnis.

Zumindest den ersten Teil des Abends mit Teilen aus Richard Wagners Oper "Die Walküre" hatte man zwei Tage zuvor am Fernseher verfolgen können, sah Simon Rattle von vorne, konzentriert, engagiert und mit freundlich-einladender Geste ans Orchester, erlebte die Stöße des Speers auf den Felsen, mit denen Wotan das Feuer entfacht, optisch im Orchester aufbereitet, oder kam Anja Kampe als Brünnhilde und Michael Volle als ihrem (Götter-)Vater Wotan ganz nahe.
Doch die Magie, die alle Beteiligten direkt auf der Bühne zu schaffen vermögen, die inneren Konflikte der Personen und ihre Gefühle, die fesselnde Spannung, das atemlose Lauschen, dazu die exzellente Qualität des Orchesters – die erlebt man nur im Konzertsaal.
Ggrößtmögliche Dynamik und feinste Nuancen
Nach den peitschenden Klängen des "Walkürenritts" (konzertante Fassung) das Finale aus dem 3. Akt der Oper, für Rattle "eine der großartigsten Szenen der Operngeschichte". Die Sopranistin Anja Kampe und der Bariton Michael Volle wussten es eindringlich und anschaulich zu inszenieren. Beide verfügen über satte, wandlungsfähige Stimmen mit einem Volumen und einer Intensität, die es Simon Rattle erlauben, dem Orchester größtmögliche Dynamik zuzugestehen und feinste Nuancen herauszuarbeiten. Kleinste stimmliche und körperliche Gesten gepaart mit der entsprechenden Mimik genügen Kampe und Volle, die ganze Welt der Emotionen abzubilden, von flehender Anklage über innere Zerrissenheit bis zu donnernder Wut.

In der Symphonie Nr. 2 D-Dur von Johannes Brahms setzte sich der bestechende Eindruck, den das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks hinterließ und der eben den Unterschied zu anderen hochklassigen Orchestern ausmacht, fort. Hier herrscht einfach Vollkommenheit. Natürlich stimmt zum einen die musikalische Aussage, die aus einer harmonischen Zusammenarbeit mit dem Dirigenten erwächst.
Drei kurze Minuten als Zugabe, denn, so Rattle: "Es gibt Fußball!"
Zum anderen sind da die technische Perfektion und die größtmögliche Integrationsbereitschaft des Einzelnen in einen geschlossen musizierenden Organismus. Es sitzen da ja ziemlich viele auf der Bühne. Dennoch klingt es absolut homogen, ansatzlos und rein, geschmeidig, wohlgeformt bis ins Detail. Beste Bedingungen also für einen Weltklasse-Dirigenten, mit den Elementen der Musik zu spielen und das Publikum mit in den Strom der Musik zu reißen.
Auffallend ist Rattles Umgang mit den Klangfarben: Sehr subtil setzt er minimale Veränderungen ein, färbt die Töne mal etwas heller, mal etwas wärmer, leuchtender oder abschattiert. Seine enorme energetische Ausstrahlung fokussiert er stark, verzichtet auf überflüssige Gesten, dirigiert wie aus einem einzigen Punkt im Inneren. So erreicht er mit dem Orchester kaum noch hörbare, aber nie abbröselnde, immer substanzhaltige Pianissimi, nach denen furiose Explosionen umso mehr wirken.
Auf den frenetischen Jubel des Publikums ließ der 69-jährige Brite an diesem Abend des EM-Finales einen spektakulär rasanten Slawischen Tanz folgen – drei kurze Minuten als Zugabe, denn, so Rattle: "Es gibt Fußball!"