Claudia Kind erinnert sich genau, wie sie das erste Mal beim Heimatspiel dabei war. Es war Anfang der 1970er Jahre, ihr Onkel Egon Ramke spielte den Stadtpfarrer und nahm sie mit. Sie saß auf dem Erntewagen, stolz wie Oskar. Es folgte eine typische Heimatspielkarriere: Tanzmädchen, Schnitterin, vor einigen Jahren die erste Sprechrolle, Appolone, die Frau des Bürgermeisters. Seit diesem Jahr Claudia Kind Vorsitzende der Heimatspielgemeinde. Die 50-Jährige könnte nicht glücklicher sein über ein Stück gelebte Heimatgeschichte, wie man es selten findet heutzutage.
1927 wurde das Heimatspiel „Die Schutzfrau von Münnerstadt“ zum ersten Mal gespielt, und 91 Jahre später ist es immer noch Teil der Identität der Bürger der 7800-Einwohnerstadt Münnerstadt im östlichen Landkreis Bad Kissingen. Viele sind schon ihr ganzes Leben Heimatspieler. Das Stück ist älter als die fränkischen Passionsspiele in Sömmersdorf, wahrscheinlich eines der ältesten Volksschauspiele in Franken und wurde nur in der Zeit der Nationalsozialisten und des Zweiten Weltkriegs nicht gespielt. Der Pfarrer Ludwig Nüdling schrieb es 1927 in nur wenigen Wochen, im übrigen auf Anregung des damaligen Landrats, der den Tourismus in der Stadt ankurbeln wollte.
Seit 1949 durchgehend gespielt
1949 griffen die Münnerstädter das Stück wieder auf, seither kommen jedes Jahr im Spätsommer gut 200 Ehrenamtliche zusammen, um ihr Heimatspiel zu zeigen. Kinder als Tanzmädchen oder Scholaren, Jugendliche als Schnitter, Erwachsene als Mitglieder der Rosenkranzbruderschaft, Senatoren, Pfarrer, Mönche, Stadtknechte, als Bürgermeister, dessen Gattin Appolone oder Tochter Ottilia, als tapferer Held Michel Stapf, der die Stadt verteidigt.
Für sie alle ist dieses Stück so viel mehr als einfach nur drei Mal im Jahr auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu stehen. „Es ist Heimat“, beschreibt Claudia Kind, was für sie und viele andere das Stück bedeutet, das die Identität der Stadt seit Jahrzehnten prägt.
Es hat einen historischen Kern: Im Februar 1641, sieben Jahre vor Ende des Dreißigjährigen Krieges, belagerte das schwedisch-weimarischen Heer unter Führung von Oberst Rosen auf seinem Zug durch Franken Münnerstadt. Die Bürger verweigerten die Übergabe, zwei Mal hatten sie in den Jahren zuvor die Schweden in die Stadt gelassen, immer wurde geplündert, gebrandschatzt und gemordet. Der Feind beschoss die Stadt, zog aber plötzlich ab. Der Legende nach soll die Mutter Gottes, zu der die Münnerstädter in ihrer Not beteten, über den Mauern der Stadt erschienen sein und die Kugeln der Schweden gefangen haben. Der Feind floh, die Stadt war gerettet. Seit dem 18. Jahrhundert bis heute ziehen die gläubigen Bürger immer am 8. September in der „Schwedenprozession“ zu den Stadttoren, um sich für die wunderbare Errettung zu bedanken.
Bodenständig und weltoffen
Das religiöse Element der in Franken oft zu findenden Marienverehrung ist ein wichtiges Element des Stückes, das noch mit dem Originaltext aus dem Jahr 1927 – manche Schauspieler hüten ihre Jahrzehnte alten, vergilbten Textbücher wie einen Schatz – gespielt wird. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt, der Heimatspiel und Münnerstadt verbindet: „Die Menschen schätzen die Bodenständigkeit, aber auch die Offenheit. Bei uns gibt es keine Ausgrenzung, bei uns kann jeder mitmachen, sich jeder engagieren. Es gibt ja auch im Stück die Szenen, wo die Flüchtlinge aus den Dörfern vor den Schweden davon rennen und in der Stadt Schutz suchen“, erzählt Claudia Kind.
Die Vorbereitungen beginnen jedes Jahr schon Monate vorher. Im Mai starten die Proben für die Sprechrollen, gut vier Wochen vor der ersten Aufführung am letzten Sonntag im August wird die Bühne mit vereinten Kräften aufgebaut. Die Werbung läuft schon im Frühjahr an, die Kartenvorbestellungen laufen alle bei Claudia Kind ein. An den Spieltagen dann treffen sich 15 fleißige Helfer schon früh um 7 Uhr und stellen die 450 Stühle, versehen mit Platznummern, auf dem Anger vor dem Heimatspielhaus-Ensemble auf.
Am letzten Spieltag – am zweiten Sonntag im September – packen dann alle mit an: Direkt nach dem Stück wird alles wieder aufgeräumt, Stühle, Dekoration, Bühne. Bis zum nächsten Jahr. „Irgendwie ist die Heimatspielsaison die fünfte Jahreszeit für Münnerstadt. Alle kommen zusammen und wuppen es. Es ist jedem wichtig und man ist stolz, wenn es losgeht, weil man auch seine Stadt vertritt“, findet Claudia Kind.
Bundespräsident Heinrich Lübke ließ das Stück ändern
Geschichten und prominente Gäste beim Heimatspiel gab und gibt es viele aus den letzten Jahrzehnten. Der Schauspieler, der den Schwedenobrist Rosen spielte, fiel einmal beim Festzug mitsamt Pferd um und brach sich zwei Stunden vor dem Spiel das Bein. Ersatz war zwar schnell gefunden, doch der brauchte auf dem Pferd sitzend sein Textbuch während des Stücks. Es war sogar einmal ein entfernter Nachfahre des Schwedenobristen da, Jürgen Freiherr von Rosen. Er führte eine naturheilkundliche Klinik im hessischen Gersfeld. Nachdem er das Stück gesehen und viele Bilder geschossen hatte, verfasste er sogleich einen Bericht im Familienmagazin der weltweit verzweigten Familie.
In bleibender Erinnerung ist auch der Besuch des früheren Bundespräsidenten Heinrich Lübke mit seiner Ehefrau Wilhelmine 1964. Zum einen wurden in aller Eile die Kuhfladen nach dem Einzug der Althäuser auf der Straße entfernt, damit der Herr Bundespräsident, der in Bad Kissingen zur Kur weilte, nicht hineintreten konnte – indes, er kam zu spät, das Stück hatte schon begonnen. Zum anderen wurde nach seinem Besuch tatsächlich das Stück geändert. Denn Lübke hatte es zwar gefallen, er empfand aber die zweite Marienerscheinung als unglaubhaft. Also wurde die Szene in den Folgejahren weggelassen, obwohl sie für das Verständnis des Stückes essenziell ist – aber: Es war ja der Wunsch des Bundespräsidenten. Erst Mitte der 1970er Jahre sorgte der damalige Spielleiter Ferdinand Betzer dafür, dass wieder die Originalversion gespielt wurde. Bis heute.
Den Charakter nicht verändern
Claudia Kind hält es mit dem Heimatspiel wie ihr Vorgänger Bruno Eckert, der sich vergangenes Jahr nach 55 Jahren als Heimatspieler und vier Jahrzehnten als Vorsitzender zurückgezogen hat. „Verbessern ja, verändern nein. Das Heimatspiel ist ein Schatz“, sagt Kind.
Die Zukunft ist übrigens gesichert: Den Held Michel Stapf verkörpert der 17-jährige Dominik Lieb. Er machte im Frühjahr in Grundschule, Mittelschule und Gymnasium Werbung fürs Heimatspiel. In schickem Kostüm, mit Schwert. Und er beeindruckte offenbar, denn „jetzt haben wir 26 Tanzmädchen, das war echt ein Erfolg“, erzählt Claudia Kind schmunzelnd. Sie weiß ja, wie das ist, wenn man eine typische Heimatspiel-Karriere beginnt.
Heimatspiel „Die Schutzfrau von Münnerstadt“
Aufgeführt wird das Heimatspiel immer am letzten Sonntag im August sowie an den ersten beiden Sonntagen im September – in diesem Jahr also 2. und 9. September. Das Programm an diesem Wochenende, 1. und 2. September: am Samstag Lagerleben am Anger mit Speis und Trank ab 15 Uhr am Sonntag Schutzengelmarkt in der Stadt ab 9 Uhr, Lagerleben am Anger von 10 bis ab 13 Uhr, Einholen der Feldkasse am Rathaus um 13 Uhr, Festumzug um 13.45 Uhr, Heimatspiel um 14.30 Uhr (Dauer rund 90 Minuten). Am Sonntag, 9. September, dann noch einmal um 13 Uhr am Rathaus Einholen der Kasse, um 13.45 Uhr Festzug durch die Straßen, um 14.30 Uhr Festspiel am Anger.
Karten unter Tel. (0 97 33) 33 30 oder an der Kasse vor Ort. Das aktuelle Programm unter www.heimatspiel-muennerstadt.de