Die Faszination der Geschichte um die Flucht der Familien Strelzyk und Wetzel aus der DDR des Jahres 1979 ist ungebrochen. Wie groß das Interesse daran nach wie vor ist, merkten wir in der Redaktion an der überraschend hohen Zahl von Zugriffen auf Archivartikel über den Film zur Flucht. Dieser fürs Kino gedrehte Film von Bully Herbig lief am Sonntagabend zum ersten Mal im Free-TV. Im Anschluss gab es zudem eine Dokumentation unter dem Titel "Ballon - Die Flucht und was danach geschah". Schon in den Kinos hatte der Film mehr als eine Million Zuschauer angelockt.
War das Risiko nicht viel zu hoch?
Die Fragen einer Zuschauerin an Petra Wetzel nach der Vorführung des Kinofilms von Michael Bully Herbig, der spektakuläre Flucht aus der DDR am 16. September 1979 beschreibt, waren sehr direkt. „Ihre Kinder waren damals bei der Ballonflucht zwei und fünf Jahre alt. Warum haben Sie Ihre kleinen Kinder und sich selbst in solch große Lebensgefahr gebracht, nur um in den Westen zu flüchten? War das Risiko, dabei abzustürzen, nicht viel zu hoch? Für mich sind Sie keine Heldin.“
Einen Moment wurde es ganz still in der kleinen Kirche der Evangelischen Gemeinde in Weimar-Schöndorf, im April 2019. Dann folgte die ruhige Antwort von Petra Wetzel, zum Zeitpunkt der Flucht 1979, 24-jährige Mutter der zwei und fünf Jahre alten Jungs Andreas und Peter. „Natürlich sind wir keine Helden. So fühlen wir uns auch keineswegs und solche wollten wir auch nie sein. Mein Mann Günter und auch Peter Strelzyk und seine Frau Doris waren damals vor der Flucht so zuversichtlich, dass alles gut gehen wird. Dieses Gefühl hatten wir irgendwie alle verinnerlicht. Während der 28-minütigen Luftfahrt waren wir voller Adrenalin und extrem angespannt.“
Viele Fluchtversuche endeten mit Tod oder Verletzung
Es seien damals bei dem Versuch, aus der DDR zu flüchten, viele Menschen gestorben oder verletzt worden, zum Beispiel, wenn sie es schwimmend über die Ostsee versuchten oder auf dem Landweg an der Grenze auf eine Mine traten oder die ebenso heimtückischen Selbstschussanlagen auslösten. „Deshalb haben wir alleine schon wegen der Kinder den aus unserer Sicht damals weitaus sicheren Luftweg gewählt.“
Petra Wetzel hatte auf der kleinen Ballon-Gondelplattform, die insgesamt acht Personen tragen musste, ihre beiden Söhne links und rechts im Arm. Einen großen Schreck gab es allerdings schon auf der Startwiese im Wald nahe von Oberlemnitz, das heute ein Stadtteil von Bad Lobenstein ist. Der damals 15-jährige Frank Strelzyk, der beim Kappen einer der vier unter Spannung stehender Seile, an welchen der 28 Meter hohe Ballon vor dem Start fixiert war, einen Erdhering mit voller Wucht gegen den Kopf bekam und stark blutete. „Ich dachte, der Junge stirbt.“, erinnert sich Petra Wetzel. Zum Glück war es nur eine Platzwunde.
In der Luft mit den Kindern gesungen
In der Luft habe sie mit den Kindern leise einige Lieder gesungen, um sie zu beruhigen. Und die Dunkelheit half auch, die Angst zu minimieren. Der Ballon war zeitweilig in über 2000 Meter Höhe. Mehrmals sei dort das Gas ausgegangen, der Ballon drehte sich und dann sei es schnell hinab gegangen. Sie bekennt, das sie bis heute Höhenangst habe und kaum auf eine Leiter steigen könne. In einem Ballon sei sie nie wieder gefahren.
Ihr Mann Günter hat sich bei der etwas ruppigen Landung des riesigen Ballongefährtes an einem Waldrand auf bayerischer Seite, dabei noch einige Baumwipfel streifend, gegen 3 Uhr nachts nahe der Stadt Naila, einen Muskelfaserriss am Bein zugezogen. Petra Wetzel brach sich beim Landeaufprall einige Zähne ab. Die Kinder blieben zum Glück unverletzt. Wenn sie vorher gewusst hätte, was theoretisch alles hätte passieren können, bei einem selbst gebauten Ballon und ohne praktische Flugerfahrung, dann wäre sie wohl nicht eingestiegen, erklärte sie 40 Jahre später.
Petra Wetzels Fluchtgründe
„Es waren beileibe nicht nur politische Gründe, warum wir die Flucht in die Freiheit gewagt haben.“ Die damals mit ihrer Familie in Pößneck lebende Petra Wetzel, hatte einst Pflegeeltern, die sie aus dem Waisenhaus in der DDR holten, als sie zehn Wochen alt gewesen sei. „Meine Pflegemutter ging dann 1974, als ich erwachsen war, auch in den Westen nach Nürnberg, wo meine Schwester wohnte. So hatte ich nach der geglückten Flucht noch zehn Jahre bis zu ihrem Tod, meine Mutti und die Kinder ihre Oma. Weil sie laut den DDR-Behörden ‚nur‘ meine Pflegemutti war, durfte ich sie zuvor in der Bundesrepublik nicht besuchen. Dann bekam sie mehrere Herzinfarkte und ich konnte ihr nicht beistehen. Das war auch ein wesentlicher Grund, warum ich aus der DDR weg wollte.“
In Bayern seien sie alle sehr freundlich aufgenommen worden. Bis auf wenige Ausnahmen. „Einige Tage nach der Flucht kam ein anonymer Brief bei uns an mit Verhüterli und dem Spruch: "Anbei eine kleine Spende zur Vorsorge, damit's von Euerer SORTE nicht noch mehr werden." Ob die Absender vielleicht West-Spitzel der Stasi waren, von denen es im Raum Hof aktenkundig mehrere gab und einige davon auch die Ballonflüchtlinge auskundschafteten, lässt sich heute nicht mehr aufklären.
Beide Familien wurden intensiv beobachtet
Für das SED-Regime war diese auch von den Westmedien vielfältig publizierte Ballonflucht in die Freiheit eine große Niederlage. Zumal diese ausgerechnet drei Wochen vor dem 30. Jahrestag der Gründung der DDR passierte, wo Staatschef Honecker und Co. wie gehabt die Erfolge beim Aufbau des Sozialismus feiern wollten. Die DDR-Geheimpolizei schickte ein verwandtes Ehepaar aus Pößneck nach Naila, um die Familie Wetzel wieder in die DDR zurück zu locken unter angeblicher Zusicherung von Straffreiheit. Doch Günter Wetzel verständigte umgehend die Polizei in Franken und warf das Ehepaar aus der Wohnung.
Zudem gab es damals auch anonyme Drohungen, die Kinder der Familie Strelzyk im Westen zu entführen. Wie aus zahlreichen Unterlagen der DDR-Staatssicherheit hervorgeht, wurden beide Familien bis zum Fall der Mauer 1989 intensiv beobachtet.
Berichte aus Bad Kissingen an die Stasi
Mit der Stasi hat auch die Verbindung der Geschichte nach Bad Kissingen zu tun. Die zweite an der Flucht beteiligte Familie, die Strelzyks verschlug es in die Kurstadt. Peter Strelzyk eröffnete hier einen kleinen Elektrobetrieb. Nach einigen Jahren stellte er dort einen früheren Freund an, der nach der Republikflucht der Strelzyks in der DDR hinter Gitter gekommen war, weil man ihm Fluchthilfe unterstellt hatte.
Unternehmerisches Glück hatten die Strelzyks nicht. 1985 ging das Geschäfte pleite. Der frühere Freund übernahm den Laden. Erst nach dem Fall der Mauer erfuhren die Strelzyks bei der Einsicht in ihre Stasi-Akten, wie der ehemalige Freund sie im Auftrag der Staatssicherheit bespitzelt hatte. Ganze Aktenordner füllten die Berichte des Inoffiziellen Mitarbeiters (IM) mit dem Decknamen Karl Diener.
Alle anderen Fluchtversuche auf dem Luftweg scheiterten
Laut Akten aus der Stasiunterlagenbehörde gab es nach der geglückten Ballonflucht der Strelzyks und Wetzels von 1979 bis 1984 noch 72 weitere Fluchtversuche auf dem Luftweg. Doch alle scheiterten. Darunter waren laut Stasi "50 Vorhaben des ungesetzlichen Verlassens der DDR mittels Ballons" sowie 22 Vorhaben mit weiteren Fluggeräten." Die Stasi hatte ihr Überwachungs- und Spitzel-Netz massiv ausgebaut. 151 Menschen wurden verhaftet. Petra Wetzel hat „die Flucht bis heute nicht bereut“. Sie lebt seit zwei Jahren getrennt von ihrem Mann in Pegnitz bei Nürnberg und freut sich auf ihren Ruhestand. Vor der Corona-Pandemie hatte sie mehrere Termine im ganzen Land wahrgenommen, um als Zeitzeugin über die Ballon-Flucht faktenreich zu berichten. Außerordentlich habe es sie gefreut, dass den Ballon-Kinofilm von Bully Herbig mittlerweile schon weit über eine Million Menschen gesehen haben. „Es darf einfach nicht vergessen werden, wie die DDR ihre Bürger eingesperrt hat und ihnen viele Menschenrechte verwehrte."