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Bad Neustadt/München
Siemensianer vor Konzernsitz: „Die Rhön ist da“
Über 2500 Menschen haben am Mittwoch vor der Zentrale des Elektrokonzerns in der Münchner Innenstadt gegen den geplanten Stellenabbau in Deutschland demonstriert. Allein aus Bad Neustadt und der Rhön waren in insgesamt 42 Bussen rund 2200 Siemensianer angereist.
Von unserem Redaktionsmitglied Ines Renninger
 |  aktualisiert: 22.06.2022 09:18 Uhr

Die Siemensianer haben schon lange das Gefühl, in einem Bus zu sitzen. Seit dem 28. Januar, als die Siemens-Spitze erklärte, in der Region Rhön-Grabfeld 840 Stellen abbauen zu wollen.

Wie nach einer langen Schaukelfahrt fühlen sich die Siemensianer seither: durchgeschüttelt, flau im Magen, wirr im Kopf. Der sichere Job fliegt vorbei, das Haus, die Familie, die Zukunft. An diesem Mittwoch sind sie tatsächlich eingestiegen in den Bus, nicht nur die Siemens-Mitarbeiter, auch Rhöner, die sich solidarisch zeigen wollen. Und nicht in einen, sondern in 42 Busse. In München wollen sie anlässlich einer Siemens-Aufsichtsratssitzung gegen die geplanten Stellenstreichungen demonstrieren.

Hier können Sie den Live-Ticker zur Fahrt nachlesen

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Ein historischer Tag soll es werden, hat Peter Kippes, Zweiter Bevollmächtigter von der IG Metall im Vorfeld angekündigt. Malerisch genug ist der Morgen dafür allemal. Als orangefarbener Ball strahlt die Sonne auf die roten und weißen Siemensianer-T-Shirts, die gegen 6.30 Uhr vor dem Werk in der Industriestraße in Brendlorenzen vom Parkplatz zu den Bussen hetzen. Beeindruckend das Bild der von der Polizei zur Autobahn eskortierten Busse: 2200 Rhöner auf Rädern.

„Wir wollen ein Signal setzen“, sagt Werner Schmitt, IG-Metall-Vertrauenskörperleiter und Siemens-Betriebsrat, der von seinen Siemensianern der IG Metall-Jacke wegen auch roter Baron genannt wird. „Nicht nur die Siemensianer kämpfen um die Arbeitsplätze, sondern die ganze Rhön.“ Schmitt sitzt im „Lead-Bus“ – so haben die 49 Insassen Bus 21 getauft, weil er den Konvoi gen München anführt.

„Wir hoffen schon, dass sich die Siemens-Spitze noch mal bewegt“, ist von den gut gelaunten Passagieren zwischen Brötchen, Würstchen und Bier zu hören. „Es kann doch nicht sein, dass der Mensch nicht mehr zählt, dass Rendite alles ist“, sagen sie. Deshalb ist die Rhön eingestiegen. Deshalb reisen sie nach München.

Die Welt ist für die meisten schon vor der Busfahrt ins Wanken geraten: Ein Schock sei die Nachricht vom geplanten Stellenabbau gewesen, erzählen der 49-jährige Dieter Faulstich und der 38-jährige Mario Fuchs. Beide arbeiten im Werk Brendlorenzen. „Viele Familien stehen vor dem Nichts“, sagen sie. Fuchs erklärt: „Würde ich meinen Job verlieren, für mich bräche eine Welt zusammen.“ Manch einer, so Faulstich, könne nicht mehr schlafen.„Mit dieser Unsicherheit kann man nicht leben“, sagt der 49-Jährige, der als Alleinverdiener vier Kinder ernährt.

Im Bus wird gewitzelt und gelacht. „Wäre ja schlimm, wenn wir hier Totengräberstimmung hätten. Schließlich wollen wir heute etwas bewegen“, sagt Gottfried Wehner. Dass nun wohl doch 300 Stellen weniger vom Abbau betroffen sind als ursprünglich angekündigt, findet der 55-Jährige zwar gut. Doch der Siemens-Mitarbeiter sagt: „Das ist der erste Schritt. Aber der ist noch viel zu klein.“

Eng wird's auf dem Rastplatz Nürnberg-Feucht. In der Toiletten-Schlange kommt es zu Akten zivilen Ungehorsams. „70 Cent!“, so die empörten Rufe. „Da geh' ma zu zweit durch“, erklärt eine Frau und zwängt sich mit einer anderen durchs Drehkreuz.

Nicht nur Siemensianer sitzen im Bus mit der Nummer 51. In Reihe drei haben Gudrun Scheuplein und Helga Fritsch, Krankenschwestern in der Kreisklinik Bad Neustadt, Platz genommen. Sie haben extra Urlaub genommen. „Weil es um die Region geht“, sagen sie, „die Arbeitsplätze, die heute verloren gehen, sind auf Dauer weg.“

Gegen 11.30 Uhr hat der Bus den Karl-Scharnagl-Ring in München erreicht, von dort geht's mit Transparenten, Trillerpfeifen, Tröten und Sirenengeheul zur Siemens-Konzernzentrale an den Wittelsbacherplatz. „Hallo München, die Rhön ist da“, ruft Betriebsratsvorsitzender Bernhard Omert vom Podest. Die 2200 Rhöner jubeln – und Hunderte andere Siemensianer stimmen mit ein.

 
 
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