Er sitzt da, er genießt und er verliert den Kampf gegen die eigenen Tränen. Gänsehaut. Unter den offiziell 20 003 Zuschauern in der American Airlines Arena von Miami ist Holger Geschwindner. Ein Mann, den eigentlich nichts erschüttern kann, der sonst immer so pragmatisch und so kühn analysiert – studierter Mathematiker und Physiker. Aber den Augenblick wird er nicht vergessen, das beweisen diese packenden Bilder voller Emotion.
Später wird es heißen, dass jener Abend im Juni 2011 die letzte Etappe einer langen Reise war, die Anfang der 1990er Jahre in einer Schweinfurter Turnhalle mit grauem Plastikboden und lasierten Holztribünen begonnen hat. Dort hat der heute 68-Jährige einst „einen langen Blonden gesehen“, wie er sagt, „der ohne richtiges Training ziemlich viel mit dem Basketball richtig gemacht hat“. Dieser lange Blonde hat ihn jetzt zum Weinen gebracht: Dirk Nowitzki. Der Würzburger, der am 12. Juni 2011 in Miami mit den Dallas Mavericks als erster und bis dato einziger Deutscher den Titel in der nordamerikanischen Basketball-Liga NBA gewonnen hat.
Geschwindner, dieser Kauz aus dem hessischen Laubach, hat immer daran geglaubt, hat stets mit Nowitzki daran gearbeitet.„Viele haben gelächelt, haben es als Humbug bezeichnet, dass wir Dirk mit unkonventionellen Methoden besser gemacht haben.“ Geschwindner spricht nicht von sich, er benutzt das „wir“, wenn er davon erzählt, wie er Dirk Nowitzki von den Dallas Mavericks 2011 zum besten Basketballer in der stärksten Liga der Welt gemacht hat. Lob erwartet er nicht, ihm genügt alleine die Bestätigung an diesem Abend in Miami, um zu wissen, dass er vieles in der Arbeit mit seinem Schützling aus Würzburg richtig gemacht hat. Ihm reicht das. Was andere über ihn sagen, juckt ihn nicht. So ist er.
Ein Stoff, aus dem Filme sind. An diesem Donnerstag läuft die Nowitzki-Dokumentation von Regisseur Sebastian Dehnhart in den deutschen Kinos an – und sie erzählt vor allem die Geschichte dieser außergewöhnlichen Beziehung zweier Männer: Nowitzki und Geschwindner. „Der Meister und sein Lehrling“, nennt sie Publizist Peter Satorius: „Keine Vater-Sohn-Beziehung.“ Das belegen auch die Bilder des Films, der das Verhältnis der beiden haarklein herausarbeitet, wenngleich es keine harten Fakten sind, man als Zuseher aber das Kino mit dem Eindruck verlässt, dass sich die beiden blind verstehen und ebenso aufeinander vertrauen.
Als „so etwas wie Telepathie“ charakterisiert es Nowitzkis schwedische Ehefrau Jessica Olsson: „Sie haben ihre eigene Sprache.“ Das wird in den anderthalb Stunden glasklar. „Alles andere als einfach“ beschreibt Nowitzkis erster Trainer Pit Stahl das Zusammenspiel der beiden: „Du wusstest heute nicht, was Holger einfällt, was er morgen mit Dirk machen wollte. Für mich und die Mannschaft war das nicht immer einfach, wir wurden auch nicht gefragt.“ Donnie Nelson, früher Assistenztrainer an der Seite seines Vaters Don und heute General-Manager der Dallas Mavericks, hat diese Erfahrung auch gemacht, „aber wir haben die beiden gelassen. Wir hatten schnell das Gefühl, dass es das Richtige ist, was die zwei tun. Letztlich ist das auch so. Ohne Holger wäre Dirk nicht zu dem geworden, was er ist.“
Der hierzulande keinesfalls unumstrittene Geschwindner ist in den USA merklich bekannter als hierzulande, er stolziert durch die Arenen der NBA ohne Karte, die Ordner kennen ihn: „It's Holger!“ Michael Finley, von 1996 bis 2005 Teamkollege von Nowitzki in Texas, charakterisiert den Mentor als eine Mischung aus „Frankenstein und dem verrückten Professor“. Und weil er so unkonventionell arbeitet, hat er in seinem Schloss im oberfränkischen Peulendorf auch das „Institut für angewandten Unfug“ eröffnet: „Uns wurde ja immer nachgesagt, dass das, was wir tun, Unfug ist.“ In dem Büro im Erdgeschoss bastelt Geschwindner am Computer, füttert ein Strichmännchen mit Daten, Maßen und Koordinaten: Erdanziehungskraft, Uhrzeit, Längen aller Gliedmaßen, Schuhgröße . . . Verrückt einfach. Heraus kommt der perfekte Wurf. Der Titel des Films. Nowitzki hat das Strichmännchen mit seinen persönlichen Daten übrigens nie selbst am Bildschirm hüpfen und werfen gesehen. Aber dem Mathematiker und Physiker Geschwindner gibt es die Sicherheit, das Richtige im Training mit seinem Schützling zu tun.
Das Gefühl bei Nowitzki zu entwickeln, zu wissen, in welchem Winkel der Ball die Hand verlässt, das ist Geschwindner wichtig. Dazu wird hart gearbeitet, bisweilen brutal geschuftet beim stupiden Hopserlauf mit Bleiweste. Dazwischen muss der Schützling das Saxophon-Spielen lernen, der Rhythmus des Jazz ist wie Basketball. Geschmeidig. Kantig. Bilder dazu zeigt der Film schon fast im Überfluss: Mal beim Training im oberfränkischen Rattelsdorf, mal in Würzburg, zwischendurch in Dallas und auch während Drehpausen zu Werbespots auf Mallorca. Training, Training, Training. „Talent und Glück machen vielleicht 20 Prozent aus“, sagt Nowitzki, „der Rest ist einfach harte Arbeit.“
Die stete, stupide Arbeit, der unbändige Wille ist die eine Seite des Films, der Privatmensch Nowitzki und seine gefeierten Erfolge die andere – und die merklich schwerer einzufangende Seite des Superstars, dessen Stellenwert in den USA enorm ist. US-Präsident Barack Obama nennt ihn den besten NBA-Basketballer der Finalserie 2011 und nimmt ihm bei der Ehrung im Weißen Haus unter großem Gelächter nicht wirklich ab, „dass Sie das Singen geübt haben“. Obama spielt auf die Gesangeinlage bei der Meisterfeier in Dallas an, wo Nowitzki das „we are the champions“ ins Mikrofon krächzt – Singen ist für den mächtigsten Mann der Welt was anderes.
„Mir hat's trotzdem gefallen, das war ein Gänsehautmoment“, sagt der NBA-Champion. Vom Empfang in Würzburg, wo über 12 000 Menschen vor der Residenz mit Nowitzki gefeiert hatten, ist im Film nichts zu sehen – ansonsten ist reichlich Unterfränkisches dabei, zumeist unterlegt mit Klängen einer Maultrommel, die hiesigen Breiten einen provinziellen Touch verleihen. Wohl auch deshalb, weil es zur Geschichte des Dirk Nowitzki passt, der aus dem beschaulichen Würzburg den Sprung ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten geschafft hat und dort ein Star geworden ist. Es amüsiert, wirkt nicht despektierlich.
Leute, die Nowitzki kennen, sich mit ihm beschäftigt haben, freut es, dass zwar die Geschichte die gleiche ist, wie sie Jahr für Jahr strapaziert wird, wenn der Basketballer in seiner Sommerpause Interviews gibt, aber anders, ja tatsächlich neu erzählt wird. Dass Mutter Helga für ihn kocht, er nie Geld einstecken hat oder er vor dem Training in Rattelsdorf nicht nur den Hallenschlüssel holt, sondern auch die Quarktasche in der Bäckerei bei Ursula Meth. Diese Bodenständigkeit ist nun mal Realität, die Blickwinkel, die Regisseur Sebastian Dehnhardt findet, sind aber tatsächlich ganz andere. So erzählt etwa Lisa Tyner, die sich in der Geschäftsstelle der Mavericks um Nowitzkis Belange kümmert, „dass Dirks Mutter bei einem Besuch zu Weihnachten einmal ein paar Gehaltsschecks aus der unbearbeiteten Fanpost gefischt hat.“