Wer in diesen Wochen mit einem Mitglied der Bundesregierung über die Ukraine-Krise spricht, bekommt stets den gleichen Satz zu hören: „Wir können nicht hinnehmen, dass die Probleme des 21. Jahrhunderts mit den Instrumenten des 19. und 20. Jahrhunderts gelöst werden.“
Als der amerikanische Präsident Barack Obama vor wenigen Wochen in Brüssel vor Jugendlichen sprach, drückte er sich ähnlich aus: „Russlands Führung greift Wahrheiten an, die noch vor wenigen Wochen selbstverständlich waren: Dass im 21. Jahrhundert Grenzen in Europa nicht mit Gewalt neu gezeichnet werden können.“
Dass die Europawahl 2014 in das Jahr fällt, in dem die Welt des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs gedenkt, legt die Suche nach Analogien nahe. Gerade weil mitten in Europa eine Union entstanden ist, die sich das gegenteilige Konzept zum 20. Jahrhundert auf ihre Fahnen geschrieben hat: Frieden und Wohlstand für alle lautet das Motto der Europäischen Union, die 2012 für die Überwindung der Gegensätze von einst mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war.
Dabei springt nach Auffassung von Historikern jeder zu kurz, der nur nach Waffenarsenalen und kriegsähnlichen Auseinandersetzungen fragt und daraus Parallelen zum Ausbruch des „Großen Krieges“ sucht. Die liegen an anderer Stelle.
Russland Ängste des Jahres 2014 sind vergleichbar mit denen Deutschlands vor 100 Jahren. Es ist die Furcht, von einkreisenden Mächten erdrückt zu werden und am Ende unterzugehen. Ob diese subjektive Sicht tatsächlich stimmt oder nicht, ist unerheblich, wenn sie doch zu Gegenreaktionen wie im Fall der Ukraine führt. Dass Moskau sein Handeln 2014 mit früheren, ähnlichen Aktionen des Westens begründet, mag man für unseriöse Argumentation halten.
Tatsächlich aber erlebt Russland seit dem Ende der Sowjetunion die beiden großen Bündnisse im Westen als bedrohlich. Moskaus Einfluss auf dem Balkan wurde von der Nato zerstört, anschließend fielen die übrig gebliebenen Staaten des einstigen Jugoslawiens in die Einflusssphäre der EU. Dass man damit seinen eigenen Verfolgungswahn füttern kann, ist zumindest nachvollziehbar. Gleich zweimal musste Moskau im vergangenen Jahrhundert erleben, wie es von einer Siegermacht zum eigentlichen Verlierer wurde.
Der Friedensvertrag von Versailles 1919 war nicht anderes als der Nährboden für den deutschen Nationalsozialismus, der die Welt noch einmal in Schutt und Asche stieß. Statt Siegerrecht entstand aus den Trümmern ein neues Bündnis in Europa, das sich am Ende als Gewinner entpuppen sollte, weil es aus dem besiegten Deutschland wieder eine zentrale europäische Größe machte.
Eingebunden in die Nato entwickelte sich aus Gewinnern und Verlierern eine Gemeinschaft, die plötzlich zur Konkurrenz wurde – nicht zuletzt deswegen, weil die Allianz ebenso wie die Union ihre Fühler immer weiter Richtung Moskau auszustrecken begannen. Aus russischer Sicht fand da so etwas wie eine schleichende Zersplitterung der eigenen Einflusssphäre statt.
Erst Polen, dann Ungarn und Tschechien, demnächst Serbien, Bosnien und Herzegowina, Weißrussland und die Ukraine. Historiker sehen aber noch ein ganz anderes Problem für die stetig gärenden Unruheherde in allen Blöcken. Dabei geht es um jene Staaten, in denen unterschiedliche Nationalitäten und Religionen zusammenleben. Solange die zentralisierten Systeme beispielsweise auf dem Balkan herrschten, blieben offene Konflikte begrenzt. Als die zentrale Steuerung wegfiel, brachen nationale, hier und da sogar ethnische Konflikte auf.
Der Mangel an nationaler Identität hat nicht nur zur Abspaltung des Kosovo von Serbien oder die Trennung von Tschechen und Slowaken geführt, sondern gärt noch heute mitten in der Union: zwischen Spaniern und Basken, Flamen und Wallonen, Schotten und Briten. Die geschichtliche Analogie zu den Vorgängen vor 100 Jahren ist leicht erkennbar: Damals entschied sich Wien als das große Zentrum Österreich-Ungarns für den Versuch eines begrenzten Krieges gegen Serbien.
Das Ergebnis war ein Zusammenbruch des Reiches in zwei Rumpfstaaten, die nie wieder an das damalige Gewicht herankamen. Für viele Väter der europäischen Einigung war dies ein Beleg für die These, dass man Stärke eben nur aus Zusammenhalt gewinnen kann und nationale Gegensätze dauerhaft lediglich durch das Aufgehen in einer größeren Gemeinschaft auflösbar sind.
Jean-Claude Juncker, der ehemalige luxemburgische Ministerpräsident und derzeitige konservative Spitzenkandidat für die Europawahl, pflegt dies mit dem Satz zu veranschaulichen: „Wer heute an Europa zweifelt, sollte öfter Soldatenfriedhöfe besuchen.“ Die beiden großen Schriftsteller Heinrich Böll und Lew Kopelew arbeiteten in einem Büchlein 1984 die Sinnlosigkeit nationaler Gegensätze heraus, das den beeindruckenden Titel „Warum haben wir aufeinander geschossen?“ trägt. Es ist eine Betroffenheit auslösende Analyse über zwei Männer, die Opfer ihrer jeweiligen Systeme wurden und viel zu spät Konsequenzen daraus zogen.
100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg hat sich nicht nur die Einstellung zum Militarismus in den beiden Blöcken Europa und Russland völlig unterschiedlich entwickelt. Während Moskau weiter auf den Nationalismus und zentrale Steuerung setzt, propagiert die Union die „Einheit in Vielfalt“, also die Föderation offener, autonomer Staaten. Auch wenn die Euro-Krise die Gemeinschaft in wichtigen finanzpolitischen und ökonomischen Bereichen zusammengeführt hat, so bleibt das Idealbild Europas doch der politisch engagierte Bürger mit eigener Meinung, während Moskau am liebsten den apolitischen Konsumenten hat, der nicht demonstriert und auch ansonsten den Mund hält. Im Vergleich mag die EU schwächer erscheinen, weil sie nicht mehr kriegerisch reagiert, sondern diplomatisch.
Bevor Europa seine Jagdbomber losschickte, um die ethnischen Säuberungen auf dem Balkan zu stoppen, vergingen Monate intensiver politischer Diskussion. Russland eroberte die Krim innerhalb weniger Tage. Vor 100 Jahren hätten beide oder zumindest eine Partei wohl die eigene Armee in Gang gesetzt. Innerhalb der EU bekäme dafür kein Mitgliedstaat mehr die Genehmigung Brüssels. Die Institutionalisierung der Gemeinschaft und ihre Bürokratisierung ist nicht nur ein Nachteil.
Die Instrumente des 21. Jahrhunderts sind Konferenzen, Gipfeltreffen und ein paar Sanktionen, die zwar blamieren, aber eher in die Kategorie „soft power“ fallen. Der Vorwurf, diese richteten wenig aus, geht ins Leere. Tatsächlich lockt die Europäische Union mit einem politischen und ökonomischen Alternativ-Angebot, das attraktiv ist.
Allerdings wird sich die EU im 21. Jahrhundert intensiver mit der Frage beschäftigen müssen, wie man die eigenen Ziele und Werte exportiert, ohne dadurch Machtkonflikte auszulösen. Europa kann nicht stillhalten, weil es sonst an den Rändern der Gemeinschaft zu einem unerträglichen und letztlich auch konfliktreichen Gefälle kommt. Das Ziehen von Grenzen, wo die Menschen auf der einen Seite in Wohlstand leben, während die auf der anderen Seite ums Überleben kämpfen, mag politisch notwendig sein, human ist das nicht.
Andererseits weiß die EU selbst, dass ihr Expansionshunger die Union zerstört, weil sie nicht alle Erwartungen befriedigen kann und außerdem weit und breit keine neuen Nettozahler, sondern nur noch Nettoempfänger verfügbar sind. Das ist die schwer auszuhaltende Spannung Europas, das sich selbst kopieren muss, um auch im Inneren Frieden garantieren zu können, was aber auf Dauer unbezahlbar wird und die Angst vor dem Fremden immer neu wachsen lässt.
Die Lehre aus der Rückschau auf das Jahr 1914 heißt deshalb: Europa sollte mehr Aufmerksamkeit für die Krisen und Konflikte an den Rändern aufbringen. 1914 misslang der Versuch, eine Krise lokal begrenzt zu halten. 2014 darf sich dieses Versagen nicht wiederholen. Wenn sich die großen Akteure wenigstes in dieser Erkenntnis einig wären, könnte man gemeinsam andere Instrumente entwickeln, die es möglich machen, die Konflikte unserer Zeit auch mit anderen Mitteln zu lösen.