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WÜRZBURG
Der Schüler - Das Opfer
Manuela Göbel
 |  aktualisiert: 16.12.2021 11:31 Uhr

Im März 2010 schiebt sich Peter W. mit beiden Händen die dunkelblonden Haare aus dem Gesicht. Graue Schläfen und Falten auf der Stirn erscheinen, während er nach Worten sucht. In einem Café in Bonn erzählt der 50-Jährige, was im Zimmer des Kollegleiters passiert sei. Der Würzburger Pater habe ihn körperlich bedrängt. So sehr bedrängt, "dass ich mich geekelt und furchtbar geschämt habe". Verschiedene andere Schüler, deren Namen die Redaktion kennt, bestätigen Peters Erlebnisse. Auch sie erzählen, dass sie im Zimmer des Paters duschen sollten. Er habe sie auf den Mund geküsst und sich in Unterhose mit ihnen auf dem Bett gewälzt.

Vernehmung und Aussagen im Herbst 1971

Was ist passiert im St. Ludwig Kolleg? Diese Frage beschäftigte die Staatsanwaltschaft im Herbst 1971. Gerüchte über den "schwulen Pater" waren nach außen gedrungen. Als Eltern erwogen, zur Polizei zu gehen oder ihre Kinder vom Kolleg nahmen, zeigte sich der Pater selbst an. "Der Staatsanwalt war jung und nett." Peter W. weiß nicht genau, was er und zwei andere Schüler vor fast 40 Jahren ausgesagt haben. Er erinnert sich aber an etwas anderes: "Kurz vor meiner Vernehmung hat mich der Pater zu sich bestellt, um mir zu erklären, was ich aussagen soll." Seine Mutter berichtet diese Begebenheit später dem Provinzial der Franziskaner-Minoriten in Würzburg: "Der Pater wollte meinen Sohn dahin gehend beeinflussen, er möge nichts vom Schlafzimmer erwähnen und auch nichts davon, dass die Handlungen im Bett erfolgt seien." Die Mutter beschreibt, wie sie den Geistlichen im Mai darauf angesprochen habe. Dieser habe erwidert, dass Verschweigen ja keine Lüge sei.

"Traurig und wütend", so beschreibt Peter W. seine Gefühle heute. "Wenn mein Sohn das erleben müsste, was ich erlebt habe, könnte ich das nicht aushalten." Sein zwölfjähriger Sohn habe in ihm die Erinnerung an sein Leid geweckt. Deshalb hatte er vergangenes Jahr Kontakt mit einem ehemaligen Erzieher des Kollegs aufgenommen. Sein Sohn ist auch der Hauptgrund dafür, warum er seinen Namen nicht öffentlich machen will. Zu einer Aussage bei der Staatsanwaltschaft ist er bereit. Denn reden will Peter W.: aus Wut auf die Ungerechtigkeit, die ihm und seiner verstorbenen Mutter widerfahren ist.

Der Mitbruder

Der zweite Erzieher am Kolleg schickte der Familie vor Peters Vernehmung einen langen Brief. "Es ist wichtig", schreibt Pater S. am 12. Oktober 1971, dass Peter "mit seiner Aussage das bestätigt, was der Pater zu Protokoll gegeben hat". Peter solle keine "weiteren Namen nennen oder besondere Einzelheiten (etwa genügt es, als Ort das Zimmer von dem Pater nicht aber das Schlafzimmer anzugeben). Das würde die Recherchen unnötig erschweren". Weiter führt Pater S. aus, dass nicht nur die Ehre des beschuldigten Paters und des Kollegs auf dem Spiel stünden, sondern auch die Zukunft von Peter. Ein dezenter Hinweis auf die wirtschaftliche Abhängigkeit der verwitweten Mutter, deren Sohn ein Teil des Schulgeldes erlassen wird.

Pater S.: "Für ihre Mithilfe, die Sache zu bereinigen, jetzt schon vielen Dank." 39 Jahre später schämt sich S. für den Brief. Er liegt vor ihm, als der 72-Jährige mit der Redaktion telefoniert. "Es gibt nichts zu beschönigen, ich habe, nicht zuletzt unter dem Einfluss meines damaligen Chefs versucht, auf den Zeugen einzuwirken. Aus heutiger Sicht habe ich mich möglicherweise strafbar gemacht." S. hat den Orden später verlassen. Was in den 70er Jahren in Bonn geschehen ist, hat der inzwischen verheiratete Mann lange Zeit vergessen - oder verdrängt. Bis im Herbst vergangenen Jahres Peter W. bei ihm anrief.

Heute sagt S.: "Es tut mir sehr leid, dass ich die Kinder damals nicht schützen konnte." Damals wurde Pater S. von den Schülern geliebt. Er war die Seele im Haus, und glich das strenge Regiment des beschuldigten Paters mit Verständnis und Wärme aus. Über körperliche Übergriffe des anderen Paters sei getuschelt worden. "Warum auch immer, ich wollte nicht genau hinschauen." Als Untergebener habe sich Pater S. gegenüber dem anderen Pater und dem Kolleg zur Loyalität verpflichtet gefühlt. Befragt worden sei er zu den Vorwürfen "nach meiner Erinnerung weder von einem Staatsanwalt noch ordensintern".

Warum nicht? Weshalb wurden die Ermittlungen recht schnell eingestellt? Auf diese Fragen gibt es keine Antworten, denn die Akten in der Staatsanwaltschaft sind vernichtet und ein offizielles Ermittlungsergebnis fehlt auch im Archiv der Franziskaner-Minoriten. Allerdings steht in einem Brief der Mutter, dass sie im Herbst 1971 auf eine Anzeige verzichtete, weil der Pater das Kolleg verlassen sollte. Sein Anwalt habe das der Staatsanwaltschaft schriftlich zugesagt. Für die Eltern schien das Problem so am besten gelöst zu sein. Denn ihren Kindern blieb ein Prozess erspart.

Die Mutter

"Ich bitte herzlich um Hilfe durch Ihre Intervention", schrieb die Mutter am 12. Januar 1972 dem damaligen Kölner Erzbischof Kardinal Joseph Höffner. Sie war verzweifelt, denn nach den Weihnachtsferien war der Würzburger Pater  ins Kolleg zurückgekehrt. Genaues berichtete sie "Hochwürden Kardinal" über die Vorwürfe gegen den Pater nicht, "da ich mich schäme, die Einzelheiten seines Tuns zu schildern". Der Erzbischof schrieb höflich zurück und intervenierte nicht. In mehreren Briefen schilderte die Mutter die Vorwürfe dem Provinzial der Franziskaner-Minoriten in Würzburg und bat ihn, sich bei der Staatsanwaltschaft in Bonn zu informieren. Der Provinzial antwortete höflich und ließ den Schulleiter im Amt. Die resignierte Mutter nahm ihr Kind vom Kolleg.

Der Provinzial

1976 berichtete ein Schüler dem Provinzial der Franziskaner-Minoriten erneut von körperlichen Übergriffen des Paters. Mehrere Kinder könnten dies bestätigen. Der Provinzial fragte nicht nach: weder bei den Schülern noch bei anderen Erziehern. Stattdessen wiegelte er die Vorwürfe in einem Brief an den Schüler ab und warnte diesen davor, Unwahrheiten zu verbreiten. Auch dieses Kind verließ daraufhin das St. Ludwig Internat. Drei ehemalige Schüler haben der Redaktion von körperlichen Annäherungen des Kolleg-Leiters aus dieser Zeit berichtet. Der heutige Provinzial Leo Beck ist um Aufklärung bemüht: Er übergibt alle Vorwürfe der Staatsanwaltschaft und versucht durch Gespräche mit Betroffenen, das Geschehen der 70er Jahre zu klären.

Äußern will sich Pater Leo erst, wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind. Gegen den beschuldigten Pater ermittelt die Staatsanwaltschaft Würzburg wegen des Verdachts sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener. Neben Vorwürfen aus den Jahren 2001 und 2002 werden auch die aus den 70er Jahren untersucht - vorrangig um zu klären, ob diese verjährt sind.

Der Pater

Am 22. Februar 2010 schildert ein ehemaliger Schüler sexuelle Übergriffe des Paters in der Presse. Der in der Jugendarbeit tätige Diözesankaplan wird deshalb vom Würzburger Bischof Friedhelm Hoffmann beurlaubt. Als weitere Vorwürfe laut werden, geht der 76-Jährige in die Offensive. "Ich habe mich nie einem Kind oder Jugendlichen in sexueller Absicht genähert", sagt der Beschuldigte Ende Februar dieser Zeitung. Seine Unschuld beweise die Tatsache, dass er sich damals selbst angezeigt habe und dass die Ermittlungen eingestellt worden seien.

Der beschuldigte Würzburger Pater hat in der Jugendarbeit in Nürnberg, Bamberg, Würzburg und Umgebung gewirkt. Dass Kinder in den 70er Jahren vor seinen Wutausbrüchen Angst hatten und seine Ohrfeigen berüchtigt waren, passt nicht in das Bild vieler Menschen. Erst recht nicht der Verdacht, dass er Schüler sexuell missbraucht haben soll. "Für mich ist das nicht nachvollziehbar", kommentiert der Pater  heute die erneuten Vorwürfe. Mehr möchte er nach Rücksprache mit seinem Anwalt und im Hinblick auf die laufenden Ermittlungen nicht sagen.

Der Schüler P. hat das Kolleg 1971 verlassen. Der Pater blieb bis 1977 im Amt und setzte danach seine Karriere in Würzburg erfolgreich fort. Peter W. ist in der Schule gescheitert und hat nie richtig in der Gesellschaft Fuß gefasst. "Ich gebe ihm keine Schuld daran. Es ist nur einfach wahnsinnig ungerecht, dass er nie Verantwortung für das übernehmen musste, was er getan hat." ...

Die Serie Lieblingsstücke

Es sind Geschichten, die unseren Autoren im Gedächtnis geblieben sind. Geschichten, die sie berührt, herausgefordert, erheitert haben. Es sind ihre Lieblingsstücke, die sie teilweise vor noch gar nicht allzu langer Zeit, teilweise vor vielen Jahren geschrieben haben. Und die wir wieder aufleben lassen, in Erinnerung rufen möchten. Doch nicht nur das: Die Autoren haben sich nachträglich noch einmal Gedanken gemacht, ihr Thema neu aufbereitet, reflektiert, neue Zeilen geschrieben. Und auch die gibt’s auf mainpost.de zu lesen – in unserer Serie: Lieblingsstücke.

Der Originaltext Der Schüler von Manuela Göbel ist im März 2010 erschienen.
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