
Die Blicke haben ihn verfolgt. Er spürt sie noch immer. Beim Einkaufen im Supermarkt. An der Ladentheke beim Bäcker. Sie schielen in den Einkaufskorb, auf die Papiertüten, dann wieder auf seinen Körper. „Das ist gewaltig, das haut einen um.“ Thomas Hubert wirkt auf den ersten Blick robust. Lange Haare, dunkle Bartstoppel, schwarzer Pulli, durchlöchertes Ohr mit sieben Ringen.
Eine starke Fassade, die im Inneren gebröckelt ist. „Ich habe auch heute noch mit den Reaktionen zu kämpfen“, sagt der 34-Jährige. Dabei könnte er stolz auf sich sein. Auf seine Disziplin, seinen Erfolg. Knapp 100 Kilogramm hat der Würzburger in einem Jahr abgenommen. „Am 1. Mai 2013 wog ich 198,8 Kilo“, sagt Hubert. Bei der Berechnung des Körper-Maß-Indexes, dem Verhältnis von Körpergröße und Gewicht, liegt er damit in der Kategorie „stark übergewichtig“. Normal wäre demnach für sein Alter und seine Größe von 1,80 Metern ein Gewicht zwischen 65 und 82 Kilogramm. „Das war alles wie ein schlechter Traum“, reflektiert Hubert seine Gewichtszunahme heute.
Ein Albtraum, den er nicht alleine erlebt. 52,4 Prozent der Unterfranken bringen laut einer Mikrozensusbefragung des Statistischen Bundesamtes zu viel auf die Waage, die Tendenz ist steigend. „2013 waren 50,8 Prozent der über 18-jährigen Einwohner in Bayern übergewichtig, 2003 waren es dagegen nur 48,5 Prozent“, sagt Karl Simon, Landesgeschäftsführer der Krankenkasse IKK classic in Bayern. Auffällig sind die regionalen Unterschiede: Während in Oberbayern lediglich 46,4 Prozent zu viel wiegen, schleppen in Oberfranken 57 Prozent der Bürger zu viele Pfunde mit sich herum.
„Man ist Gefangener in seinem eigenen Körper“, sagt Hubert. Mit zittrigen Fingern hält er die grotesk wirkenden Überbleibsel der letzten Jahre in die Höhe. Hosen, in die er heute zweimal reinpasst, Hemden, die wie Zelte wirken, Gürtel, die er sich doppelt um die Hüfte schnallen kann. „Das sind Mahnmale“, betont er. Schmerzhafte Erinnerungen, die ihn immer wieder motivieren, weiterzumachen.
„Es passierte schleichend.“ Thomas Hubert hält inne, blickt eine Weile aus dem Fenster. Nahrungsmittel hätten in seinem Leben schon immer eine große Rolle gespielt, sagt er dann. Nach der Schule hat der Würzburger zwei Jahre lang als Koch und Lagerist gearbeitet, anschließend stand er auch bei der Bundeswehr zeitweise in der Küche. „Nach dem Wehrdienst wog ich grob 90 Kilo“, erinnert er sich. Im April 2000 erfüllte er sich den Wunsch einer Metzgerslehre. Vier Jahre später machte sich der Heavy-Metal-Fan selbstständig und eröffnete gemeinsam mit seiner Frau Anneliese ein kleines Restaurant am Rande von Würzburg.

„Ab dann ging das Gewicht bergauf“, sagt Hubert. Man habe viel gegessen, die Bewegung habe gefehlt. Während er als Metzger viel durch die Gegend gelaufen sei, stand er nun hauptsächlich vor dem Herd. Langsam überschritt er auf der Waage die 100, dann die 120. Aufgefallen sei es ihm schon, sagt er, doch wirklich aufraffen konnte er sich nicht. „Morgen ist auch noch ein Tag, da kann man mit der Diät anfangen“, sei der tägliche Gedanke gewesen. So ging es monatelang. Tag für Tag kamen mehr Gramm dazu.
Den ersten Schlussstrich zog seine Frau Anneliese. Die 36-Jährige meldete sich 2006 bei dem US-Unternehmen „Weight Watchers“ an. Dessen Konzept besteht darin, jedem Lebensmittel einen festen Punktewert zuzuteilen. Je nachdem wie alt und groß man ist, bekommt jeder Teilnehmer eine Punktzahl genannt, die er am Tag nicht überschreiten darf. „Es gibt eine Summe, mit der man sein Gewicht halten kann und eine, bei der man abnimmt“, erklärt Thomas Hubert. Auch er probierte damals die berühmte Diät-Methode aus – kurzzeitig mit Erfolg. „Ich hatte tatsächlich in wenigen Wochen 30 Kilo runter“, sagt er. Doch mit der Zeit ging auch die Motivation, und genauso schnell, wie er sie verloren hatte, hatte Hubert die Kilos wieder drauf. Hinzu kam die Kündigung des Pachtvertrags für sein Restaurant, das er daraufhin schließen musste.
Der gelernte Metzger jobbte sich durch, arbeitete mal für ein paar Monate hier, mal da. „Man konnte sich nie sicher fühlen“, sagt er. Mit der Unzufriedenheit stiegen die Kilos an, bis er Ende Februar 2013 die Zwei vor den Nullen stehen hatte. „200 Kilo schränken dein Leben enorm ein.“ Jede Kleinigkeit wurde zum Kraftakt. Holzhacken, Spazierengehen, Treppensteigen. Er wurde schlapp, antriebslos, schwerfällig.
Dass Adipositas, der lateinische Begriff für Fettleibigkeit, zu gesundheitlichen Schäden führen kann, ist nicht neu. Ärzte und Krankenkassen warnen seit jeher vor Folgeschäden. „Bluthochdruck, koronare Herzkrankheiten und Diabetes Typ 2 nehmen bei Übergewichtigen immer mehr zu“, bestätigt Hans-Joachim Scheller, Pressereferent der AOK Bayern, Direktion Würzburg. Zudem wird Adipositas oftmals als Risikofaktor für Fettstoffwechselstörungen, Schlaganfall, Schlafapnoe-Syndrom, Hyperurikämie und Gicht, einigen Krebserkrankungen sowie orthopädische Erkrankungen gesehen.
Thomas Hubert rieten die Ärzte dringend zu einer Magenverkleinerung. „Die haben gesagt, anders schaffe ich das nicht.“ Doch der Würzburger wollte sich nicht operieren lassen, wollte aus eigener Kraft abnehmen. „Ich bin keiner, der anderen etwas beweisen will. Ich wollte es mir selbst beweisen“, sagt er. Am 1. Mai 2013 fasste er den Entschluss, sich von nun an streng an die Punkteskala des Diätunternehmens zu halten.
„Es war eine Umstellung“, sagt Thomas Hubert schlicht. Er hätte weder gelitten noch extreme Hungergefühle gehabt. Man dürfe ja essen, betont er, nur eben bewusster. Nach und nach habe er gelernt, welche Nahrungsmittel wie viele Punkte haben. Heute ist die Liste fest in seinem Kopf verankert. „Bevor das Essen auf dem Tisch steht, weiß ich, wie viele Punkte es hat“, sagt er stolz. Ein Stück Himbeerkuchen liege beispielsweise bei zweieinhalb, beim Fleisch greife er mittlerweile statt zum Schweinenackensteak zu den Koteletts. Und das Abendessen bestehe aus Mandarinen und Äpfel. „Die drei Weißwürste, die ich früher einfach so gegessen habe, decken einen ganzen Tagesbedarf an Punkten“, erklärt er. Äpfel könne man dagegen so viel essen, wie man will.
Tag für Tag rechnete der Arbeitssuchende seine Punkte zusammen, hielt sich akribisch an die Vorgabe. Ab und zu machte er längere Spaziergänge, brachte seinen Körper langsam in Bewegung. Der Erfolg war schon nach wenigen Wochen sichtbar. Erst 20, dann 40, 50 und schließlich 100 Kilo verliert der Metzger innerhalb nur eines Jahres. „Es hat mich motiviert, zu sehen, dass es wirklich was bringt.“ Der Würzburger lächelt kurz, dann blickt er wieder aus dem Fenster.
Stolz könne er noch nicht sein, sagt er und schaut für einen kurzen Moment an sich herunter. „Mindestens zehn Kilo müssen noch weg“, erklärt Hubert. Vor einem Jo-Jo-Effekt habe er keine Angst mehr. „Es gibt keine Garantie, aber ich versuche es zu vermeiden“, sagt er und fügt selbstbewusst hinzu, „und das wird mir zu 99 Prozent gelingen“.
Info: Präventionsstellen
Der bayerische Staat gibt viel Geld dafür aus, um die Bürger schlank und fit zu halten. Über die Ämter für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten bietet der Staat kostenlose Ernährungs- und Bewegungskurse an. Im Landkreis Schweinfurt und Haßberge gibt es seit 2009 beispielsweise verschiedene Veranstaltungen für Familien mit Kindern bis zu drei Jahren. Das Netzwerk Junge Eltern/Familien erarbeitet Programme zu den Themen, die sich am Alter des Kindes orientieren. Jungen Müttern wird zum Beispiel die Zubereitung von Breikost vermittelt, damit sie auf Fertiggläser verzichten können. „Viele junge Eltern können nicht mehr kochen. Deshalb gibt es bei den meisten nur noch Nudeln mit Fertigsoße oder gleich Fast Food wie Pizza oder Burger“, beobachtet Klaudia Schwarz, Diplom-Ökotrophologin und Ansprechpartnerin beim Schweinfurter Amt. Seit fünf Jahren verzeichne sie einen Anstieg bei den Kochkursanmeldungen. „Ernährungsgewohnheiten werden schon im Kindesalter festgelegt“, so Schwarz weiter.
Deshalb sei es so wichtig, wann was auf den Tisch komme. Darüber hinaus gebe man Spiel- und Bewegungsanregungen für Kleinkinder, um bestimmte Fertigkeiten zu trainieren. „Wer hüpfende Kinder nur im Fernsehen sieht, kann noch lange nicht selbst hüpfen“, weist die Expertin auf ein zunehmendes Entwicklungsproblem hin. Seit vergangenem Herbst habe man das Angebot auf Drei- bis Sechsjährige erweitert. Das Fachzentrum Ernährung und Gemeinschaftsverpflegung, das im Würzburger Landratsamt angesiedelt ist und für ganz Unterfranken zuständig ist, qualifiziert und vernetzt Verpflegungsverantwortliche in Kindertagesstätten, Schulen, Gesundheits- und Sozialeinrichtungen. „Wir sorgen letztlich dafür, dass gesundheitsförderliche Nahrungsmittel wie Obst und Gemüse vor Ort angeboten werden“, sagt Christine Zehnter.
Neben Fachtagungen und Vorträgen organisiert das Fachzentrum auch Coachingprojekte, in denen die Mitarbeiter von Kindertagesstätten über ein Dreivierteljahr geschult werden. Die Kindertagesstätten setzen beim bayernweiten Programm „Gesund und fit im Kinderalltag – Sechs Wege zur kindgerechten Ernährung und Bewegung“ zwar Schwerpunkte, Ziel ist aber, die Eltern verstärkt einzubinden. Auch die Krankenkassen wie die AOK Bayern bieten verschiedene Seminare und Beratungstermine zum Thema Ernährung an. Zur Gewichtsreduzierung eignen sich auch Kurse, die eine Kombination von Ernährungs- und Bewegungseinheiten umfassen, wie zum Beispiel der Kurs „Bewegtes Abnehmen“. (cop)
Wissenschaftsautorin Anna Cavelius beantwortet Fragen rund um das Thema Fasten