Es ist 19 Uhr, und vor der HDI-Arena in Hannover kommt die Lichterkette an. Über 1000 Menschen hatten sich auf Initiative des sogenannten Freundeskreises der Stadt zusammengefunden und waren mit Kerzen vom Neuen Rathaus Richtung Stadion gezogen. Unter ihnen sind auch Franz, Maria und Paulina, drei junge Frauen, Anfang 20, alle aus Hannover und mit gemalten Frankreich-Flaggen auf den Wangen.
„Wir müssen zusammenstehen“, sagt Maria, aber es klingt nicht bestimmt. „Ich habe Angst. Irgendwie habe ich ein mulmiges Gefühl, aber wenn wir heute nicht ins Stadion gehen, dann siegt die Angst.“ Franzi nickt, und fügt einen Satz an, von dem sie noch nicht weiß, wie wahr er sein sollte: „Das Stadion ist heute der sicherste Ort der Welt, aber auch der gefährlichste.“
Wenige Minuten später ertönt eine Lautsprecher-Durchsage der Polizei: „Das Fußballspiel ist abgesagt. Bitte machen Sie die Ausgänge frei und treten Sie umgehend die Heimreise an.“ Das Freundschaftsspiel zwischen der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und der Auswahl Hollands, das ein Symbol hatte werden sollen für Freiheit, für Werte, es wurde abgesagt wegen einer „konkreten Gefährdungslage“, wie die Polizei in dürren Worten sagt. Die Weltmeister-Elf war zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Stadion, der Mannschaftsbus, so hieß es aus DFB-Kreisen, habe auf dem Weg nach Hannover kehrt gemacht. Die DFB-Elf logierte in Barsinghausen vor den Toren der Stadt. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich mit Teilen ihres Kabinetts angekündigt hatte, war offenbar noch nicht im Stadion.
Für Bundestrainer Joachim Löw und seine Spieler geht damit das Trauma weiter. Vor wenigen Tagen waren sie am Rande des Länderspiels in Paris gegen Frankreich Zeugen der furchtbaren Terroranschläge des IS mit insgesamt 129 Toten geworden. Die komplette Nacht hatte das Team im Stade de France verbracht und war erst am Morgen unter Polizeigeleit direkt zum Flughafen gebracht worden. Die Mannschaft, so bestätigte es der Dortmunder Nationalspieler Ilkay Gündogan, hatte sich anschließend gegen die Austragung der Partie ausgesprochen, sich aber letztlich dem Druck der Politik gebeugt.
30000 Karten waren für die Partie verkauft worden. „Die Stadt wird zur Festung“, hatte die örtliche „Neue Presse“ auf ihrer Titelseite am Dienstag geschrieben. „Wir setzen sehr, sehr viele Kräfte ein“, hatte Hannovers Polizeipräsident Volker Kluwe gesagt, es gehe um das Sicherheitsgefühl. Doch Sicherheit ist trügerisch in diesen irritierenden Tagen des Terrors. Was in Hannover ein Fest der Freundschaft hatte werden sollen, es wurde ein weiterer Akt der Angst.
Nähere Informationen sind zunächst nicht zu bekommen, Gerüchte machen die Runde. Von einer Bombendrohung ist die Rede. Bestätigung gibt es keine, gegen 20.45 Uhr melden mehrere Medien, in einem Krankenwagen am Stadion sei Sprengstoff gefunden worden. Später, auf einer Pressekonferenz in Hannover, wird Innenminister Thomas de Maizière davon sprechen, dass sich Hinweis auf eine Gefährdung „am Abend so verdichtet haben“, dass er eine Absage des Spiels empfahl, „zum Schutz der Bevölkerung“. Ins Detail ging er nicht.
Die Lage an der Arena ist nach der Absage derweil ruhig, aber extrem angespannt. Vor Tore 3, dem Presse- und VIP-Eingang, lassen die Polizisten keinen mehr ins Stadion. Journalisten, die sich bereits im Innern befunden haben, werden bestimmt nach draußen gebeten, ebenso alle Angestellten, Helfer, Besucher. Das Stadion wird evakuiert, aber die Menschen bleiben besonnen. Ihre Blicke sind ernst, aber von Panik ist nichts zu spüren.
Vor dem Stadion, dort wo vor wenigen Minuten noch fröhliche Menschen vor dem Fanbus des Weltmeisters kickten und an Gewinnspielen teilnahmen, ist alles leer. Nur Sirenen sind zu hören, überall flackert Blaulicht. Die Polizei lässt Imbissbuden und Lokale am Stadion räumen, mittlerweile ist auch schwer bewaffnete Militärpolizei zu sehen. Wenige hundert Meter vom Stadion, am Waterloo-Platz, werden Journalisten Zeugen eines Einsatzes, mehrere Beamte nehmen einen Verdächtigen fest.
Bereits gegen 18 Uhr hatte es einen Alarm gegeben. Die Polizei sperrte da das Stadion weiträumig ab, keiner durfte durch. Selbst VIPs wie der Weltmeister von 1990, Pierre Littbarski, kamen nicht durch. Nach rund 25 Minuten dann die Entwarnung: Offenbar war im Stadionumfeld ein verdächtige Tasche aufgefunden worden, es habe sich aber nur um die vergessene Tüte eines Flaschensammlers gehandelt.
Tags über war es auffällig ruhig gewesen in Hannover. Der Gruß auf dem riesigen Plakat in der Eingangshalle des Hauptbahnhofs schien wie gedichtet für diesen Tag: „Wir treffen uns nur aus Freundschaft wurde Liebe.“ Allein: Es war keine Botschaft der Stadt, sondern die Werbeparole eines Finanzberatungsinstituts. Stunden vor der Partie war rund um den Hauptbahnhof nichts zu spüren von dieser Ausnahmesituation. Fast nichts. An den Bäumen glitzerten Lichterketten, nur vereinzelt waren Polizisten zu sehen. Von Fußballfans kaum eine Spur.
Im geschäftsmäßigem Treiben der Menschen fällt nur einer auf: Unter dem Denkmal von Kaiser Ernst August steht Christian Beier. „Ich will Flagge zeigen“, sagt der pensionierte Lehrer, der aus Rethwisch in Schleswig-Holstein angereist ist. In beiden Händen hält er Fahnen, eine europäische und eine französische. „Das war eine spontane Idee, Europa muss jetzt zusammenhalten.“ Passanten kommen und sprechen mit ihm über die schreckliche Nacht von Paris. Dass das Spiel gegen Holland stattfinden sollte, war für ihn keine Frage: „Auf jeden Fall. Fußball ist unabhängig, Fußball ist ein Spiel und Fußball verbindet.“ Das, so glaubt Christian Beier, sind Argumente genug. Ein Ticket fürs Stadion aber, das hat er nicht.
Nach dieser schrecklichen Nacht von Paris, die auch Tage später noch immer so wenig begreifbar ist, sollte der Fußball wieder rollen. Wahrscheinlich hatten die wortgewaltigen Reaktionen aus Politik und Verbandswesen, sich dem Terror nicht beugen zu dürfen, den Spielern und Bundestrainer Joachim Löw gar keine andere Wahl gelassen. Trotz der traumatischen Erlebnisse in Paris sollten sie wieder auf dem Rasen stehen.
Symbolik statt Sport, oder, wie es der Schriftsteller Ronald Reng in einem Beitrag für die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ beschrieb: Es interessiert nicht, wie Fußball gespielt wird, sondern, dass Fußball gespielt wird. Es kam nicht dazu. Gegen 20.30 Uhr sind wir zurück im Hotel am Hauptbahnhof. Jetzt hätte eigentlich gleich der Anpfiff erfolgen sollen. Auf dem Bildschirm in der Lobby läuft die Pressekonferenz mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière, draußen auf den Straßen von Hannover heulen die Sirenen.