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WÜRZBURG
„Wir haben alle den Schmarotzer in uns“
Hat nicht jeder mal Angst, zu kurz zu kommen? „Aus unserer Sicht ist es rational, zu horten, wenn irgendetwas knapp ist“, sagt die Würzburger Psychologin Anne Böckler-Raettig. Sinnvoll aber ist es nicht immer. Was hat das für Folgen?
Zu viele Emotionen können unser Handeln blockieren, sagt die Würzburger Psychologin Anne Böckler-Raettig.
Foto: Illustration: Romina Birzer | Zu viele Emotionen können unser Handeln blockieren, sagt die Würzburger Psychologin Anne Böckler-Raettig.
Sarah-Sophie Schmitt
Sara Sophie Fessner
 |  aktualisiert: 11.12.2016 03:53 Uhr

In emotionalen Situationen kann unser Gehirn das Verstehen blockieren“, sagt Anne Böckler-Raettig. Im Interview erklärt die Würzburger Psychologin, warum Empathie unser Handeln oft bremst und weshalb an dem Vorwurf „Mit dir kann man nicht streiten“, tatsächlich etwas dran ist.

Frage: In einigen Momenten verstehen Menschen sich blind, in anderen hingegen scheinen sie trotz aller Worte nicht zu verstehen, was der andere beabsichtigt. Woher rührt dieses Ungleichgewicht?

Anne Böckler-Raettig: Menschen sind Meister der sozialen Interaktion. Das zeigt sich, wenn man sich anschaut, wie erfolgreich Menschen miteinander agieren – im Gespräch, in einer Bar, unter Freunden. Wir sind gut darin, Handlungen zeitlich und räumlich aufeinander abzustimmen. Wenn jemand uns etwas zuwirft, fangen wir es auf, weint jemand, zücken wir ein Taschentuch. Wenn jemand etwas Schweres trägt, hält man ihm die Tür auf. So etwas funktioniert oft ohne Worte. Ein relativ einfacher Mechanismus, der diesen Fähigkeiten zugrunde liegt, scheint das sogenannte Spiegeln zu sein. Wir verstehen die Handlungen aber auch die Gefühle anderer Menschen, indem wir sie in unserem eigenen Gehirn, am eigenen Körper spiegeln.

Das geschieht meist völlig unbewusst. Wenn Sie beispielsweise jemanden sehen, der sich die Finger in der Autotür einklemmt, spüren Sie das förmlich am eigenen Körper. Wenn jemand eine schwere Kiste hebt, können Sie unmittelbar die entsprechende Körperhaltung abrufen.

Doch das funktioniert nicht immer.

Böckler-Raettig: Es gibt viele Situationen, in denen die menschliche Interaktion versagt. Es fällt uns zum Beispiel schwer, vorhandene Ressourcen fair zu verteilen. Das liegt unter anderem daran, dass jeder eine eigene Vorstellung davon hat, was ihm zusteht, meist zu den eigenen Gunsten. Es fällt uns nicht immer leicht, uns in die Situation und Bedürftigkeit anderer hineinzuversetzen. Das sehen wir aktuell beim Umgang mit den Geflüchteten, die nach Deutschland gekommen sind. Ein etwas anderes Beispiel sind Situationen, in denen Ressourcen knapp werden – Wasser oder Medikamente. Da gibt es einen eigenartigen Reflex: Jeder fängt an, zu horten. Genau dadurch verknappt sich die Ressource noch mehr. Das wird schnell zu einem Teufelskreis.

Der Verstand sagt, dass genug für alle da ist. Warum ist sich dennoch jeder selbst der Nächste?

Böckler-Raettig: Ein Grund könnte sein, dass es gar nicht so einfach ist, sich in andere hineinzuversetzen. Wir können unseren eigenen Standpunkt immer sehr gut verstehen. Aus unserer Sicht ist es rational zu horten, wenn irgendetwas knapp ist. Aber aus Sicht aller ist das nicht rational. Es scheint, dass der Mensch die ständige Angst in sich trägt, dass andere weniger zur Gemeinschaft beitragen und mehr bekommen als er selbst. Genauso haben wir alle den 'Schmarotzer' in uns. Eine Eigenschaft, die im Kleinen vernünftig sein kann und nicht unbedingt schädlich ist. Aber wenn viele Menschen so agieren, kann das schlimme Folgen haben. Hinzu kommt: Je fremdartiger uns jemand erscheint, umso schwieriger finden wir es oft, ihn oder sie zu verstehen und zugunsten des anderen unsere Ressourcen einzuteilen. Dabei spielen verschiedene Motive, die wiederum zu verschieden Handlungen führen, eine entscheidende Rolle.

Welche Motive?

Böckler-Raettig: Wir wollen beispielsweise Sicherheit für uns und unsere Familie. Wir wollen uns um die kümmern, die uns nahe stehen. Gleichzeitig sind wir auf den eigenen Gewinn und eigenen Nutzen bedacht. Wir wollen gute Menschen sein, aber auch nicht zu kurz kommen. All das führt oft zu Handlungen, die nicht unbedingt rational sind.

Jeder von uns ist in sich schon zwiegespalten?

Böckler-Raettig: Ja, es gibt zumindest verschiedene Handlungsmotive, die sich nicht immer so einfach in Einklang bringen lassen. Wenige Menschen wollen böse oder rein egoistisch sein. Das entspricht nicht dem Selbstbild der meisten Menschen. Wir sehen uns selbst eher als rational und gutherzig. Das sieht man auch bei der Diskussion um den Umgang mit Geflüchteten oder Entwicklungen wie Pegida. Jeder denkt, das eigene Argument sei gerechtfertigt, man selbst durchschaue die Situation besser als andere. Das Sich-Hineinversetzen in den anderen und dessen Blickwinkel ist sehr schwer. Vor allem in solch emotionalen Situationen.

Wir können uns also in emotionalen Situationen nicht so gut in den anderen hineinversetzen?

Böckler-Raettig: Dafür gibt es Hinweise. Man unterscheidet häufig zwischen dem emotionalen und dem kognitiven Verstehen. Auf der einen Seite haben wir Empathie, das Sich-Einfühlen können. Wenn man einen Menschen weinen sieht, kann man am eigenen Körper nachempfinden, wie sich das anfühlt. Wenn sich jemand mit einer Rasierklinge in die Zunge schneidet, spürt man den Schmerz regelrecht. Das funktioniert ganz unmittelbar, ohne viel Nachdenken. Diese unmittelbaren Gefühlsansteckungen sind die Grundlage des affektiven, emotionalen Zugangs zum Verstehen anderer. Die Perspektive des anderen einzunehmen hingegen, ist ein eher anspruchsvoller kognitiver Prozess. Es zielt darauf ab, die Situation des anderen zu erkennen, den Kontext einzubeziehen, die Bedeutung des Gesagten zu begreifen sowie Ironie und Humor zu verstehen. In einer Studie haben Kollegen und ich untersucht, wie der kognitive und der emotionale Zugang zusammenhängen.

Mit welchem Ergebnis?

Böckler-Raettig: Die beiden Zugänge hängen erstaunlich wenig miteinander zusammen. Es gibt Menschen, die fühlen sich stark und schnell in andere ein, das müssen aber nicht notwendigerweise dieselben Menschen sein, die auch gut darin sind, sich kognitiv in die Perspektive anderer zu versetzen. Es gibt auch psychische Erkrankungen, die die Unabhängigkeit der beiden Bereiche sehr gut widerspiegeln. Autisten können sich durchaus in andere einfühlen, haben aber oft Probleme damit, andere kognitiv zu verstehen. Psychopathen auf der anderen Seite haben überhaupt keine Probleme damit, andere kognitiv zu verstehen und zu durchschauen, aber zeigen wenig Empathie. Das bedeutet letztendlich, dass Dinge wie soziale Kompetenz komplizierter sind als bisher angenommen. Eine Unterteilung in sozial kompetent und sozial inkompetent ist nicht so einfach: Es gibt den emotionalen Aspekt, das Sich-Einfühlen und den kognitiven Aspekt, das Sich-Eindenken.

Meist werden Empathie und Mitfühlen synonym verwendet. Ein Fehler?

Böckler-Raettig: In der Forschung sind die Begriffe etwas enger gefasst. Empathie ist für uns streng genommen, das Leiden des anderen am eigenen Körper zu fühlen. Davon abgegrenzt ist das Mitfühlen, das in der Psychologie mit dem englischen Wort Compassion beschrieben wird. Gemeint ist damit das warme Gefühl, das wir haben, wenn wir anderen Gutes tun möchten, etwa wenn wir einem Kind helfen. Menschen sind in der Lage, beides zu empfinden. Empathie ist wichtig. Wenn Empathie jedoch dauerhaft ohne Mitgefühl bleibt, kann sie in Stress ausarten. Wenn etwa Ärzte, Krankenpfleger oder Altenpfleger, die sehr viel dem Leid anderer Menschen ausgesetzt sind, immer diesen empathischen Stress erleben, kann das belastend sein und trägt möglicherweise zu der hohen Burnout-Rate in diesem Bereich bei.

Also ist Empathie eher schädlich?

Böckler-Raettig: Es gibt Studien, die zeigen, dass empathische Menschen, die sich einfühlen in das Leiden der anderen, auch hilfsbereiter und großzügiger sind. Für die Gesellschaft ist es wichtig, dass Menschen empathisch sein können. Für den einzelnen kann es aber natürlich auch sehr anstrengend sein, vor allem, wenn sich das Gefühl auf den empathischen Stress beschränkt. Es gibt momentan Studien, die untersuchen und zeigen, dass es sich erlernen lässt, Mitgefühl (Compassion) zu fühlen und nicht nur empathischen Stress. Es klingt erst einmal absurd, doch ein Lösungsansatz könnte sein, Compassion, also ein positives Gefühl als Antwort auf das Leid anderer zu kultivieren. Damit sind nicht Gefühle wie Schadenfreude gemeint. Sondern eher so ein warmes Gefühl, wie man es beim Umgang mit Tieren oder Kindern empfindet. Man wünscht ihnen Gutes. Dieses Gefühl versuchen manche Meditationsarten zu kultivieren, indem sie es zuerst mal hervorrufen dadurch, dass sich die Meditierenden beispielsweise kleine Kinder vorstellen. Man trainiert nach und nach, dieses Gefühl auch auf andere zu übertragen, etwa auf Menschen, die wir gar nicht kennen oder sogar solche, die wir nicht mögen oder die uns fremd sind.

Denn je fremder uns jemand ist, desto schwerer fällt es uns erst mal, sich in sie oder ihn hineinzuversetzen und ihm oder ihr Gutes zu wünschen.

Die oft beschworene Angst vor dem Fremden?

Böckler-Raettig: Dabei spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Wir scheinen erst mal vor allem die Menschen zu mögen, die uns ähnlich sind. Es fällt uns leichter, sie emotional und kognitiv zu verstehen. Mal ganz übertrieben ausgedrückt: Wenn ich mir in den Finger schneide, kann mein Gegenüber den Schmerz nachempfinden, hätte ich jedoch Flossen statt Finger, würde sich dieses Gefühl nicht unmittelbar übertragen. Und genauso ist es mit der Perspektivübernahme. Menschen, die anders sprechen als wir, die andere politischen und kulturelle Hintergründe haben, machen es uns etwas schwerer, uns in ihre Situation hineinzuversetzen. Dazu kommt, dass unsere Fähigkeit, andere und ihre Blickwinkel, Wünsche, Ziele kognitiv zu verstehen, in emotionalen Situationen eingeschränkt sein kann. Ein Beispiel: Wenn jemand uns völlig aufgelöst und panisch etwas erzählt, kann unsere eigene Gefühlsansteckung damit einhergehen, dass unser kognitives Verstehen reduziert ist.

In solchen Situationen blockiert die Empathie unser Handeln?

Böckler-Raettig: Das kognitive Verstehen kann tatsächlich unter akuter Empathie leiden. Unsere aktuellen Befunde zeigen, dass in emotional neutralen Situationen die neuronalen Netzwerke, die für Empathie und kognitive Perspektivübernahme zuständig sind, unabhängig voneinander agieren. Wenn es sehr emotional wird, nimmt bei manchen Menschen die Emotion überhand. Das zeigt sich auch an den Aktivitäten in unserem Gehirn: Eines der wichtigen Areale in Zusammenhang mit Empathie hemmt ein Areal, das für die kognitive Perspektivübernahme, also für das Einnehmen des Blickwinkels des anderen verantwortlich ist.

Hat das eine Konsequenz für das Verhalten?

Böckler-Raettig: Bei all jenen, bei denen wir die hemmenden Prozesse im Gehirn beobachtet haben, war in emotionalen Situationen die Leistung im kognitiven Verstehen anderer tatsächlich schlechter. Und das ist ein verhexter Umstand, denn gerade in Situationen, in denen es sehr emotional zugeht, wäre es ja ganz besonders wichtig, den anderen kognitiv wirklich richtig zu verstehen. Ein Beispiel: Ein Paar streitet sich. Eigentlich ist das eine Situation, in der man sich in den Partner hineinversetzen müsste, um Eskalation und Missverständnisse zu vermeiden.

Schließlich geht es meistens darum, dass man etwas falsch versteht oder sich nicht wertgeschätzt fühlt. Die Krux ist, dass man gerade in solchen Situationen emotional ist und dadurch das Verstehen eingeschränkt sein kann.

Mit dir kann man einfach nicht streiten! Dieser Vorwurf stimmt also?

Böckler-Raettig: Streiten hat mehrere Konnotationen. Etwa das konstruktive Streiten, also eine Diskussion mit dem Ziel, Missverständnisse aufzuklären und eine Lösung zu finden. Dafür ist es unglaublich wichtig, dass man die Perspektive des anderen übernehmen kann, dass man versteht, was er weiß und was er nicht wissen kann. Unsere Studie legt nahe, je emotionaler die Situation wird, desto schlechter kann man den anderen verstehen. Das könnte bedeuten, dass es sinnvoller sein kann, erst einmal die Emotion in den Griff zu kriegen, sich zu beruhigen und gegenseitig zu vermitteln, dass Wertschätzung da ist. Dann funktioniert möglicherweise in der Folge auch das Verstehen besser.

Die Psychologin und die wichtigsten Begriffe

Anne Böckler-Raettig hat in Berlin und Glasgow Psychologie studiert und wurde in den Niederlanden promoviert. In ihrer Dissertation beschäftigte sie sich mit sozialer Interaktion. Seit Oktober 2015 hat sie eine Juniorprofessur für Psychologie an der Uni Würzburg inne und unterrichtet am Lehrstuhl für kognitive Psychologie. Im Fokus ihrer Forschung stehen Aspekte der zwischenmenschlichen Interaktion. FOTO: P. Varasano Compassion: Das warme Gefühl, das der Mensch für andere hat, etwa wenn er ihnen hilft.

Empathie: Das Leiden des anderen am eigenen Körper fühlen.

Emotionales Verstehen: Sich in einen anderen Menschen hineinversetzen und auf diese Weise seine Gefühle, sein Leid oder sein Empfinden nachvollziehen. Dieser Vorgang funktioniert intuitiv.

Kognitives Verstehen: Eine Situation und ihren Kontext rational verstehen und einordnen. Auf diese Weise fällt es oft leichter, die Perspektive des anderen einzunehmen.

 
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