
Rund 1000 Wissenschaftler kommen in der nächsten Woche in Würzburg zur wichtigsten Veranstaltung für Virologen im deutschsprachigen Raum zusammen: Bei der Jahrestagung der Gesellschaft für Virologie (GfV) und der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten e.V. (DVV) diskutieren die Forscher von 14. bis 17. März über den aktuellen Stand ihrer Wissenschaft. Ein Gespräch mit Kongresspräsident Professor Lars Dölken, Inhaber des Lehrstuhls für Virologie an der Universität Würzburg (JMU) und Leiter des Virusdiagnostik-Labors.
Was macht Viren in der Geschichte der Menschheit, in der Geschichte des Lebens auf unserem Planeten so erfolgreich?
ProF. Lars Dölken: Zunächst ist da die Frage: Sind Viren Leben oder sind sie kein Leben? Entscheidend ist, dass Viren wie Lebewesen auch nur deshalb heute noch da sind, weil sie sich über Millionen von Jahren erfolgreich erhalten haben. Sie haben Möglichkeiten entwickelt, ihre Umwelt zu erfassen und zu erkennen und sich anzupassen. Viren, die zum Beispiel an uns Menschen angepasst sind, bringen uns in der Regel nicht sehr erfolgreich um. Ansonsten würde es sie nicht mehr geben. Viren gibt es schon, seit die ersten Nukleinsäuren entstanden. Das Leben hat ja mal sehr klein angefangen. Da war irgendeine Maschinerie, die eine genetische Information, wenn man das so nennen will, verdoppeln konnte, natürlich schnell sehr gefragt. In der Ursuppe war alles, was sich entwickeln wollte, auf andere angewiesen. Lebewesen haben es dann in der Folge geschafft, immer weniger auf andere angewiesen zu sein. Viren brauchen eben immer noch andere Zellen. Und manchmal sind Viren sogar auf andere Viren mit angewiesen.
Sind Viren Leben oder nicht – wie beantworten Sie diese Frage?
Dölken: Im Prinzip ist das eine rein semantische Frage. Viren tragen genetische Information und haben die Fähigkeit, diese genetische Information auf ihre Nachfahren zu übertragen. Dies gelingt ihnen, indem sie die vorhandenen Gegebenheiten nutzen – nur eben mit minimalem Aufwand. Man kann daher nicht sagen, dass Viren keine Lebewesen wären.
Gürtelrose, Influenza, Hepatitis, Masern, Mumps – warum machen Viren krank?
Dölken: Die Frage ist auch: Warum machen sie uns krank? Warum zum Beispiel geht es Kindern, die an Windpocken erkrankt sind, zwar nicht so gut, zumeist aber auch nicht richtig schlecht? Warum geht es Erwachsenen, wenn sie Windpocken oder Masern haben, ganz grausig? Unser Immunsystem trägt dazu unglaublich viel bei. Es gibt eine ganze Reihe von Viren, bei denen ohne Immunsystem erst einmal kaum Krankheitssymptome entstehen. Unsere Zellen bilden in etwa 10 000 verschiedene Proteine, die meisten Viren nur eine Handvoll bis zu ein paar Dutzend. Da sollte man meinen, dass das bei der großen Gesamtzahl an Proteinen in unseren Zellen nicht so tragisch ist. Wenn aber einzelne virale Proteine von unserem Immunsystem erkannt werden, dann sieht die Sache anders aus. Dann kann massiver Schaden verursacht werden, wenn mit den infizierten Zellen aufgeräumt wird.
Das heißt, unser Problem ist unser Immunsystem?
Dölken: Das kann man leider so auch nicht sagen. Es ist ein Bestandteil des Ganzen. Ohne Immunsystem würden die Viren uns einfach plattmachen. Da wären wir nichts anderes als eine große Zellkultur, die überrannt wird. Das Immunsystem beim Aufräumen eben an, dass etwas nicht stimmt, beseitigt dann aber in aller Regel sehr effizient die Plagegeister.
Auf Bakterien, zum Beispiel im Darm, sind wir ja angewiesen. Haben auch Viren einen Nutzen für uns?
Dölken: Bei Viren ist dies in aller Regel leider nicht so. Es gibt kein Virus, bei dem ein klarer Vorteil zu erkennen wäre, wenn man sich damit infiziert hat. Das heißt aber nicht, dass es keine Effekte gibt. Es kann sein, dass man, während eine Infektion abläuft für eine andere Infektion nicht so anfällig ist. Manche kennen das bei Allergien: Wer im Frühjahr viel unter Heuschnupfen leidet, bekommt seltener einen grippalen Infekt. Das Immunsystem ist dann beispielsweise schneller in der Lage eine Infektion zu erkennen und zu eliminieren. Es kann aber natürlich auch umgekehrt sein. Meistens sind Viren also für uns schlecht – zumindest für uns als Individuum.
Und für uns als Population?
Dölken: Da sind Viren nicht unbedingt schlecht. Wenn man in der Natur die großen Populationen von Vögeln oder Nagetieren betrachtet: Viren verhindern Überbevölkerung. Wenn die Viren nicht die großen Populationen dezimieren würden, würden alle einzelnen Tiere elendig verhungern. Viren sind in die Evolution also gut eingebunden. Ohne sie würde die Welt völlig anders aussehen – und zwar wohl eher nicht besser.
Gerade haben zwar wieder die vielen Grippe-Fälle Schlagzeilen gemacht. Aber Ebola, Zika, MERS? Viren sind derzeit kein besonders öffentliches Thema.
Dölken: Influenza-Viren sind derzeit wirklich auf sehr hohem Niveau. Man merkt es bei uns in der Klinik, da verursachen sie gerade Hochbetrieb. Ebola ist zwar nicht weg, aber das Problem ist deutlich kleiner geworden. Jetzt kommt dafür die Zeit, in der die vielen Forschungsarbeiten zu diesen Viren langsam abgeschlossen und vorgestellt werden. Forschungsprojekte dauern ja zumeist zwei, drei Jahre. Viele spannende Arbeiten zu Ebola und zu Zika werden jetzt gerade abgeschlossen.
Die neuesten Erkenntnisse?
Dölken: Es ist nicht so, dass es jetzt grundlegend neue Erkenntnisse gibt. Es ist eher so, dass jetzt die erworbenen Erkenntnisse in die Klinik übertragen werden. Als die Ebola-Epidemie begann, gab es noch keinen Impfstoff. Jetzt hat die Welt erkannt, dass man sich das nicht mehr leisten kann. Als die Zahlen 2014 in Westafrika in die Tausende gingen, war man als Virologe fassungslos, dass die Staatsoberhäupter nicht schneller reagiert haben. Die Situation war kurz davor zu explodieren. Wir haben riesiges Glück gehabt, dass die Epidemie unter Kontrolle gebracht werden konnte, bevor sie zu uns nach Europa schwappte. Dies gelang nur mit enormem persönlichen Einsatz von vielen, vielen Leuten vor Ort. Die Erkenntnis daraus: So etwas darf nie wieder passieren. Und so etwas muss und wird jetzt hoffentlich auch nicht mehr passieren. Viele der gefährlichen Viren kennen wir. Jetzt werden gegen die hämorrhagischen Fieber, die man durch die grausigen Fotos in der Presse kennt, erfolgreich Impfstoffe bis hin zu klinischen Studien entwickelt. Auf die nächste Epidemie werden wir daher viel besser vorbereitet sein.
Die Impfstoffe sind also da?
Dölken: Praktisch ja. Nicht immer so, dass man sie heute gleich einsetzen könnte. Aber eine Epidemie entwickelt sich ja nicht innerhalb von zwei Tagen, sondern vielleicht in drei Monaten. Auch die vielen Ärzte und Helfer, die nach Afrika gehen, bekommen dann einen guten, tragbaren und soliden Impfschutz. Das heißt natürlich nicht, dass neue Viren keine neuen Probleme bedeuten. Die erste Welle einer Epidemie wird man häufig nicht aufhalten können. Aber die zweite Welle, wenn es von den Tausenden von Toten in die Hunderttausende geht – da haben wir heute gute Chancen, sie aufhalten zu können.
Sie selbst arbeiten an Herpesviren, weil . . .
Dölken: . . . weil sie ein tolles Modell dafür sind wie unser Immunsystem und unsere Zelle funktionieren. Die verschiedenen Herpesviren manipulieren ihre Zielzellen auf vielfältige Art und Weise – die einen schalten sie ab, die anderen programmieren sie umfassend um. Die einen sind schnell, die anderen nicht. Lippen-Herpes setzt bereits vier Stunden nach Infektion die ersten Virus-Partikel frei, andere Viren brauchen dafür mehr als drei Tage. Warum? Wenn man die zugrunde liegenden zellulären Mechanismen verstehen will, sind Herpes-Viren einfach optimal. Über Millionen von Jahren haben sie sich mit unseren Wirten in Koexistenz entwickelt. Sie sind gewissermaßen Professor für Zellbiologie und Immunologie.
Was hat sich auf klinischer Seite getan? Welche Viren machen noch die größten Sorgen? Welche sind bald ausgerottet?
Dölken: Das erste Medikament, das es gegen Viren überhaupt gab, war gegen Lippenherpes. Dann kam mit HIV die nächste Reihe an Medikamenten. In den letzten Jahren gibt es enorme Erfolge bei Hepatitis C. In Deutschland wird man in zehn Jahren die Zahl der neuen Fälle an zwei Händen abzählen können. Einen großen Bedarf gibt es aber noch bei vielen kleinen RNA-Viren, respiratorischen Viren aber auch Noro- und Rotaviren.
Masern?
Dölken: Die könnte man ausrotten! Da müsste die Impfung verpflichtend sein. Oder man müsste sie koppeln: ohne zeitgerechte Masern-Impfung kein Kindergeld. Der Kosten-Nutzen ist eindeutig. Nicht zu impfen ist einfach nur fahrlässig. Nicht nur für sein eigenes Kind, sondern vor allem für kleine Kinder im ersten Lebensjahr, die man noch nicht impfen kann. Das Gleiche gilt auch für Windpocken: Wenn ich mich als Frau nicht impfen lasse, erkranke ich vielleicht in der Schwangerschaft und schädige dann mein ungeborenes Kind. Oder nehmen Sie die Papilloma-Impfung bei jungen Mädchen. Wer möchte schon, dass die eigene Tochter mit 35 Jahren Gebärmutterhalskrebs bekommt und daran verstirbt? Das ist einfach total unnötig.
Ist das ist ein generelles Plädoyer für das Impfen?
Dölken: Auf jeden Fall! Masern, Mumps, Windpocken, Papilloma-Viren – keine Frage. Die Sache ist ganz einfach. Alle Impfungen, die von der Ständigen Impfkommission empfohlen werden. Impfungen kosten eine Menge Geld. Wenn der Staat bzw. die Krankenkassen nicht überzeugt davon wären, dass sich dies volkswirtschaftlich lohnt, würden sie das doch nie freiwillig bezahlen.
Auch gegen Grippe?

Dölken: Auch da gibt es eine entsprechende Empfehlung der Ständigen Impfkommission. Es hängt von der Bevölkerungsgruppe ab: In welchem Alter bin ich? Habe ich Kinder? Habe ich Grunderkrankungen? Es ist eine reine Frage des persönlichen Risikos.
Nächste Woche empfangen Sie 1000 Kollegen in Würzburg. Auf welchen Vortrag ist der Kongresspräsident besonders gespannt?
Dölken: Auf den Vortrag von Professor Klaus Früh aus Portland in den USA. Seine Arbeitsgruppe arbeitet seit Jahren an der Entwicklung eines Impfstoffs gegen HIV. Im Gegensatz zu allen bisherigen gescheiterten Versuchen basiert ihr Ansatz auf einem Herpesvirus, dem humanen Zytomegalievirus. Es wurde genetisch zu einer unglaublich breiten Stimulation unseres adaptiven Immunsystems getrieben, wie sie bis vor kurzem noch für unmöglich gehalten wurde. Im Affenmodell hat der entsprechende Impfstoff bereits funktioniert. Das hat unser Grundverständnis von unserem Immunsystem an vielen Stellen völlig über den Haufen geworfen. Jetzt ist Klaus Frühs Arbeitsgruppe dabei, den Impfstoff auf den Menschen zu übertragen. In den nächsten fünf Jahren werden wir hoffentlich hören, dass dies gelungen ist. Wenn ja, könnte dies eine Plattformtechnologie für weitere Impfstoffe gegen andere schwer kontrollierbare Erreger sein, zum Beispiel Malaria oder Tuberkulose. Das wäre ein wirklicher Durchbruch.