
Klingt einfach: Die Verhaltensanalyse versucht, unser Verhalten zu beschreiben und vorauszusagen. Vor allem in den USA ist dieser wissenschaftliche Zugang weit verbreitet – in Deutschland dagegen kaum bekannt. Einer der wenigen, die sich damit beschäftigen, ist der Würzburger Psychologe Professor Christoph Bördlein. Die Verhaltensanalyse, sagt er, sollte man nicht mit dem verwechseln, was in der (kognitiven) Verhaltenstherapie als „Verhaltens- und Problemanalyse“ bezeichnet wird. Denn das sei ein „diagnostisches Werkzeug“, die Verhaltensanalyse dagegen eine Wissenschaft, die jedes Verhalten nicht nur „analysieren“, sondern es erklären und gegebenenfalls auch verändern möchte. Aber Vorsicht: Den Begriff „Angewandte Verhaltensanalyse“ finde man mittlerweile zwar auch in Deutschland, jedoch werde darunter meist nur eine bestimmte Therapie des Autismus verstanden. „Das ist etwas missverständlich“, sagt Bördlein.
Die Verhaltensanalyse kenne weit mehr „Anwendungen“. Im Sport zum Beispiel, in der Arbeitssicherheit, im Unterricht. Bördleinselbst begann sich während des Studiums mit der Verhaltensanalyse – in anderen Ländern eine eigenständige Wissenschaft – zu beschäftigen. Weil ihm die klassischen Erklärungen der Psychologie oft nicht ausreichend oder nicht richtig passend schienen. In dieser Woche leitet Christoph Bördlein nun die alle zwei Jahre stattfindende Konferenz der „Europäischen Gesellschaft für Verhaltensanalyse“. Sie findet nämlich zum erst Mal in Deutschland statt: dank ihm in Würzburg, an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Frage: Herr Professor Bördlein, was macht die angewandte Verhaltensanalyse? Welches Verhalten analysieren Sie denn?
Christoph Bördlein: Menschliches und tierisches Verhalten, ganz im Allgemeinen.
Das ist eine sehr breite Definition.
Bördlein: Stimmt. Verhaltensanalyse wird teilweise als eine Strömung innerhalb der Psychologie verstanden. Teilweise definiert sich die Verhaltensanalyse aber auch als eigenständige Wissenschaft. Sie deckt einen ähnlichen Realitätsbereich ab wie die Psychologie, aber auf andere, eher naturwissenschaftliche Art und Weise.
Wo ist der Unterschied?
Bördlein: Psychologie beschäftigt sich mit dem Verhalten und Erleben des Menschen. Sie geht in der Regel von der Grundannahme aus, dass das, was wir an äußerlich sichtbarem Verhalten zeigen, verursacht wird durch innere Vorgänge. Dass also unser Denken und Fühlen Ursache für unser Verhalten ist. Die Verhaltensanalyse dagegen geht davon aus, dass beides - sowohl das, was man von außen wahrnehmen kann, als auch das nicht sichtbare Denken und Fühlen – Verhalten ist, das sich nicht prinzipiell unterscheidet. Beides, das offene und das sog. verdeckte Verhalten, wird verursacht durch die Bedingungen, unter denen wir leben.
Das Denken und Fühlen interessiert den Verhaltensanalytiker also auch?
Bördlein: Ja sicher, das ist ein ganz wichtiger Aspekt unseres Verhaltens. Der einzige Unterschied ist, dass Sie es von außen nicht sehen können. Verdecktes Verhalten hat nur einen anderen Grad von Beobachtbarkeit. Die Ursache des Verhaltens sucht die Verhaltensanalyse nicht im Verhalten selbst, sondern außerhalb, in den Bedingungen, unter denen das Verhalten stattfindet.
Jemand der sich wie Sie wissenschaftlich damit beschäftigt – analysiert der ständig das Verhalten anderer? Also jetzt hier im Gespräch oder sonst im Alltag?
Bördlein: Sagen wir so: Man würde es ja nicht studieren, wenn man sich nicht besonders für menschliches Verhalten interessieren würde. Insofern schaut man schon mit einem gewissen Blick auf das, was Mitmenschen tun. Und man überlegt: Warum macht jemand das? Nehmen Sie ein „klassisches“ Beispiel, wo die Verhaltensanalyse sehr gute Lösungsmöglichkeiten anbieten kann: quengelndes Kind an der Supermarktkasse. Es möchte Süßigkeiten, der Vater gibt nach etlichem Quengeln nach. Als Verhaltensanalytiker denke ich mir: Ja, jetzt hast Du dem Kind gerade beigebracht, dass es beim nächsten Mal wieder quengeln soll und dann dafür was Süßes bekommt. Dass man Alltagssituationen mit anderem Auge betrachtet, das geht in Fleisch und Blut über.
Da würden die meisten anderen Kunden aber auch nichts anderes denken als: Super, ist das Kind wieder mal fürs Quengeln belohnt.
Bördlein: Genau, und das ermöglicht dann auch eine Intervention: Wie bekommt man es hin, dass das Kind nicht mehr quengelt oder nach den Süßigkeiten bittet und fragt? Ein Psychologe, kognitiv oder tiefenpsychologisch orientiert, würde sagen: Das Kind quengelt aufgrund irgendwelcher Gedanken und Gefühle, weil es frustriert ist und so weiter. Das mag auch sein. Aber die Frage, die sich anschließen muss lautet: Warum ist es frustriert?
Ihr Spezialgebiet ist Arbeitssicherheit. Da geht es auch um Frust und Quengeln?
Bördlein: Da geht es um die Frage: Wie kann man Menschen dazu bringen, sich am Arbeitsplatz sicher zu verhalten und die unbequeme Schutzbrille aufzusetzen, eine trittfeste Leiter zu benutzen, statt auf einen Stuhl zu klettern oder auf dem markierten Weg zu gehen statt einfach quer durch die Fabrikhalle? Die traditionelle Psychologie hat dafür keine wirklich knackigen Lösungen. Die Verhaltensanalyse hat sehr erfolgreiche Mittel.
Nämlich?
Bördlein: Man definiert ganz klar: Was ist das sichere Verhalten? Man beobachtet dann, wie häufig das jemand schon macht. Man gibt Rückmeldung dazu und zeigt den Mitarbeitern einer Firma, wie sie sich verhalten. Man vereinbart zusammen Ziele. Und reichert das an mit positiver Verstärkung.
Also Belohnung – wie den Loli fürs Quengeln?
Bördlein: Es ist nicht ganz das gleiche wie Belohnen. Auf jeden Fall hat der Mitarbeiter ein klein wenig davon – durch Lob, Anerkennung oder vielleicht eine kleine Zuwendung. Die positive Verstärkung ist eine sehr wirksame Methode der Verhaltensanalyse.
Wie ist?s mit Bestrafung und Verbot?
Bördlein: Bestrafung als pädagogische Maßnahme hat zahlreiche Nebenwirkungen. Und Bestrafung lehrt kein neues Verhalten. Durch Bestrafung lernen Sie eigentlich nichts. Allenfalls, die weitere Bestrafung zu vermeiden. Wenn ich nur mit Verboten arbeite, schaffe ich keinen positiven Anreiz, dass sich die Mitarbeiter sicher verhalten. Und ich erreiche keine Einsicht.
Erreicht man die durch positive Verstärkung?
Bördlein: Sicheres Arbeiten ist immer mit etwas Mehraufwand verbunden. Das erreichen Sie durch Bestätigung und Wertschätzung mehr als dadurch, Mitarbeiter unter Druck zu setzen.
Sie hatten gleich zu Beginn gesagt: Es geht um das Verhalten von Menschen und Tieren. Weil wir alle doch auch Tiere sind?
Bördlein: Der Mensch ist ein besonderes Tier. Die biologischen Gesetzmäßigkeiten, die für die Tiere gelten, gelten auch für den Menschen. In der Art und Weise, wie wir vom Verhalten her funktionieren, sind wir nicht prinzipiell anders. Was uns unterscheidet, ist vor allem die Sprache – dadurch wird alles ziemlich kompliziert. Wer Sprache hat, kann sich selber Regeln setzen.
Wenn ein Verhaltensanalytiker alles Tun von Mensch und Tier analysiert – wie tut er das?
Bördlein: Indem er beobachtet, unter welchen Umständen das Verhalten auftritt und unter welchen nicht. Sprich, Verhaltensanalytiker benutzen ein zunächst sehr einfaches Schema: vor dem Verhalten, nach dem Verhalten. Beispiel Fingernägelknabbern. Man wird feststellen, dass dieses meist selbststimulierende Verhalten in der Regel nur in bestimmten Situationen auftritt. Welche sind das? Was passiert danach? Welche Konsequenzen hat das Verhalten? Und der Verhaltensanalytiker überprüft experimentell: Was passiert, wenn man die Bedingungen in der Umwelt gezielt verändert? Tritt das Verhalten dann immer noch auf?
Und wo ist der Unterschied zur Psychologie? Was würde der Psychologie machen?
Bördlein: Im Endeffekt nicht viel anderes. Aber die Interpretation ist eine andere. Der Psychologe würde sagen, jemand knabbert Nägel, weil er nervös ist und er würde versuchen, die Nervosität zu behandeln. Aus Sicht der Verhaltensanalyse ist das Nervös-Sein ein Teil des Verhaltens. Der Verhaltensanalytiker würde sagen, die Person knabbert Nägel und ist nervös in bestimmten Situationen. Zum Beispiel wenn sie einen spannenden Film schaut, und sie erzeugt dadurch einen Reiz an den Fingern. Es geht um die prinzipielle Frage: Wo sehe ich die Ursache des Verhaltens? In den Umweltbedingungen – wie die Verhaltensanalyse. Oder in hypothetischen inneren Prozessen – wie die Psychologie. Nehmen Sie das Beispiel eines verhaltensauffälligen, schwierigen Schülers. Der Lehrer hat die Vorstellung: Den schicken wir zum Psychologen, der soll mit ihm mal reden und was machen. Was soll der Psychologe machen: Den Kopf aufmachen und „die Schrauben nachziehen“? Das unangemessene Verhalten tritt im Unterricht auf. Man muss sich also den Unterricht anschauen und beobachten, wie sich das Schüler da verhält. Was passiert davor, was danach? Herbeiquatschen kann man eine Verhaltensänderung nicht.
Wo hat die Verhaltensanalyse ihre Grenzen?
Bördlein: Sie hat auf jeden Fall ihre Grenzen, wenn Verhalten fest biologisch verdrahtet ist. Einem Hund kann ich nicht abtrainieren, mit dem Schwanz zu wedeln. Die Verhaltensanalyse ist ja eine junge Wissenschaft und hat sich erst in den 1970er, 1980er Jahren so richtig von der Psychologie emanzipiert und da viele Anwendungen entwickelt. Ich würde nicht sagen, dass sie alles kann. Aber sie kann sicher noch viel mehr Anwendungsmöglichkeiten entwickeln.
Wie zum Beispiel im Sport, einer Ihrer Forschungsschwerpunkte.
Bördlein: Genau. Verhaltensanalyse in Sport, Gesundheit und Fitness. Wie kann man Menschen überhaupt dazu bringen, sich häufiger zu bewegen? Warum das besser wäre, muss man ja nicht mehr erklären. Aber da gibt es schon viele schöne Studien mit verhaltensanalytischem Ansatz, wie man Bewegung fördern kann.
Durch Belohnung!
Bördlein: Durch Ziele und Zwischenziele, Feedback und Konsequenzen. Eine Firma kann Anreize schaffen, dass die Mitarbeiter häufiger die Treppe benutzen statt den Aufzug zu nehmen. Ein anderer Aspekt: Wie kann man Sportlern mit Verhaltensanalyse helfen, in der Technik noch besser zu werden. Da gibt es interessante Studien, wie man Golfspielern oder Balletttänzern beibringen kann, bestimmte Bewegungen auf ideale Weise auszuführen. Ein guter Trainer gibt Feedback – aber das ist meist nicht sehr passgenau und nicht strukturiert. Und er kritisiert natürlich: So kannst Du es nicht machen. Der verhaltensanalytische Zugang ist: Möglichst exakt zu dem Zeitpunkt, wo das richtige Verhalten auftritt, Feedback zu geben. Mit Verstärkern und Anreizen muss ich da gar nicht groß arbeiten, der Sportler selbst will ja besser werden.
Weil Sie oft die Umweltbedingungen angesprochen haben: Sie verändern also eigentlich nicht das Verhalten selbst, sondern die Umwelt?
Bördlein: Das Grundprinzip ist: Ich verändere Verhalten dadurch, dass ich Bedingungen in der physikalischen und sozialen Umwelt verändere. Umwelt ist sehr breit gefasst: Sie nicken, während ich rede. Das ist ein Verstärker für mein Verhalten, zu reden. Wenn Sie aufhören würden, würde ein sozialer Verstärker wegfallen und ich würde weniger reden, obwohl ich gerne rede.