
Schon wieder ein Jahr vorbei. Rasend schnell. Wo ist sie nur hin, die Zeit? Vergeht sie immer schneller? Schon klar, dass ein Jahr immer 365 und 1/4 Tage hat. Nehmen wir Zeit nur anders wahr als früher? Der Würzburger Philosophieprofessor Jörn Müller nimmt sich für Gedanken zum Jahreswechsel . . . genau: Zeit.
Frage: Herr Professor Müller, was ist das nur? Zeit?
Prof. Jörn Müller: Wenn es eine Erfahrung gibt, die man als Philosoph macht, sobald man sich mit dem Problem Zeit auseinandersetzt, dann ist es diese. Das Thema wirkt auf den ersten Blick einfach und erweist sich bei näherem Hinsehen als extrem komplex. Es gibt eine ganz berühmte Stelle bei Augustinus, im elften Buch seiner „Bekenntnisse“, wo sich einer der bedeutendsten Zeit-Traktate in der Geschichte der Philosophie findet. Da formuliert Augustinus es so: „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, dann weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären soll, weiß ich es nicht.“ Man kann eben nicht leicht und schnell sagen, was Zeit ist.
Versuchen wir es langsam. War für Augustinus Zeit etwas anderes als für uns?
Müller: Der Zeit-Begriff ist philosophisch hochgradig umstritten, und es gibt verschiedene Zeit-Begriffe und Zeit-Diskurse. Begonnen bei Natur-Zeit, also einem objektiven physikalischen Zeitverständnis, über subjektives Zeit-Erleben, individuelles Zeit-Empfinden bis hin zu persönlichem Umgang mit Zeit. Dazu kommt noch Zeitlichkeit als Signatur menschlicher Existenz, wie in Martin Heideggers „Sein und Zeit“. Seit Augustinus, seit dem 4./5. Jahrhundert nach Christus, hat sich doch einiges verändert. Wir können auf Textzeugnisse über das Zeitverständnis in Antike und Mittelalter zurückgreifen. Was wir nie greifbar haben werden, ist das Zeit-Empfinden. Wie hat man Zeit gefühlt? Was war Zeit für eine Erfahrung? Da muss man vorsichtig sein. Ich bin auch kein allzu großer Freund von historischen Romanen . . .
Weil zu viel erfunden ist?
Müller: Weil viele historische Romane so tun, als würden Menschen aus der Gegenwart irgendwo in eine andere Epoche verpflanzt. Ihnen werden dann Gefühle und Überzeugungen zugeschrieben, die für uns heute selbstverständlich sind. Von denen ich aber behaupten würde, die sind einem mittelalterlichen Menschen so fremd, dass er noch nicht einmal verstehen würde, worüber wir da eigentlich reden. Man kann natürlich aus heutiger Sicht beschreiben, wie Zeit-Regime aussehen, wie wir Zeit wahrnehmen. Aber wie sich Zeit früher angefühlt hat, das ist hochgradig spekulativ.
Das Gefühl, dass ein Jahr wahnsinnig schnell vergeht, vielleicht „schneller“ als früher – lässt sich das philosophisch erklären?
Müller: Es gibt schon bei Augustinus Reflexionen darüber, dass in der subjektiven Wahrnehmung Zeit mal schneller und mal langsamer vergeht. Dass einem also bestimmte Phasen als sehr kurz vorkommen und andere als sehr lang, vor allem in der Rückschau. Dann reden wir ja über Zeit, die nicht mehr ist. Über erinnerte Zeit. Es ist also die Frage, wie dicht unsere Erinnerungen sind. Ich könnte mir vorstellen, dass es nicht nur etwas damit zu tun hat, dass in unserer modernen Lebenswelt die Zahl der Termine und Beanspruchungen größer geworden ist.
Sondern vielleicht auch damit, dass vieles von dem nicht mehr diese bleibenden Eindrücke hinterlässt. Dadurch wirkt die Erinnerung fast leer. Und die Zeit, das Jahr, kommt einem inhaltslos vor. Objektiv betrachtet ist es natürlich Unsinn zu sagen, dass Zeit schneller oder langsamer vergeht. Das astronomische Jahr hat grundsätzlich 365 und ein Viertel Tage, der Tag hat 24 Stunden. Daran hat sich auch nichts geändert, aber sicherlich an unserem Umgang mit der Zeit.
Wir sind gestresster.
Müller: Unser Umgang mit den beruflichen und privaten Zeit-Regimen, denen wir unterworfen sind, ist sicher anders als früher. Sie sind mittlerweile vielleicht so eng gestrickt, dass man den Eindruck hat: Man hat für nichts mehr Zeit. Wie wir über Zeit sprechen, sagt ja schon viel darüber aus, wie wir Zeit auffassen: Man muss sich „Zeit nehmen“. Eine komische Redewendung, denn die Zeit ist ja da. Mit „Zeit nehmen“ ist subjektive Zeit-Gestaltung gemeint. Also die Planung von Tagesabläufen.
Die umgekehrte Metapher gibt es ja auch: Es wird einem „Zeit genommen“. Oder schlimmer noch „gestohlen“.
Müller: Man ist dann in Aktivitäten eingespannt, über die man nicht verfügt und die man auch als nicht so sinnhaft empfindet. Man kann sich so in ein Zeit-Regime einspannen lassen, dass man das Gefühl hat, nicht mehr „Herr“ über seine Zeit zu sein. Letztlich hat jeder Zeit. Die Frage ist, ob man sie sich bewusst nimmt. Wir leben in einem Zeitalter, das von extremer Beschleunigung gekennzeichnet ist. Auch hinter dem Gefühl „Zeit vergeht schnell“ steckt die Bewegung. Wenn man sich die Zeit-Diskussionen anschaut – in der Philosophie bis in die Physik – wird man feststellen, dass es immer die Tendenz gegeben hat, Zeit zu verräumlichen.
Zeit-Raum? Raum-Zeit?
Müller: Man beschreibt Zeit in Raum- und Bewegungsmetaphern. Das macht bis zu einem gewissen Grade auch Sinn. Bei Aristoteles ist Zeit der Index für Bewegung. Es gibt Prozesse – und in ihnen ein Vorher und ein Nachher, ein Früher und ein Später. Zeit ist an Bewegung verknüpft. Die Vorstellung von Aristoteles ist: Wenn wir ein Universum hätten, in dem nichts passiert, in dem keine Prozesse stattfinden, gäbe es auch keine Zeit. Wir messen die Zeit ja auch durch Bewegung. Unser astronomisches Jahr bemisst sich letztlich an der Bewegung der Himmelskörper.
Die Zeit kann also nicht stehen bleiben?
Müller: Genau. Zeit kann nicht stehen bleiben, dann gibt es sie nicht.
Wenn Zeit Bewegung ist – was ist dann die Gegenwart?
Müller: Interessante Frage. Genau die hat auch Augustinus in seinen Bekenntnissen schon gestellt. Er hat gesagt: Im Grunde genommen ist Gegenwart nichts anderes als der Übergang von zukünftiger in vergangene Zeit. Der Moment, in dem aus dem, was noch nicht ist, das wird, was war. Der Gegenwartsmoment selbst als solcher ist schwer zu beschreiben. Gegenwart muss auch eine gewisse Ausdehnung haben und kann nicht nur punktförmig beschrieben werden. Augustinus macht das an einem schönen Beispiel klar, in „De musica“: Damit wir eine Melodie hören und nicht nur Töne, müssen wir die vorherigen Töne irgendwie auch in der Gegenwart haben. Also muss es eine Ausdehnung der Gegenwart in die Vergangenheit geben und auch eine Art Ausdehnung in die Zukunft. Weil wir antizipieren, was jetzt gleich kommt.
Stark verändert hat sich der Umgang mit Zeit, oder? Zeit ist inzwischen Geld.
Müller: Natürlich. Der Umgang mit Zeit ist eine ganz zentrale Fähigkeit, es entstehen dadurch auch andere Tugenden. In bürgerlichen Gesellschaften wird Pünktlichkeit eine Tugend. Das war es früher überhaupt nicht.

Gab es den Begriff überhaupt?
Müller: Nein. Sie werden in der gesamten antiken Literatur darüber nichts Wesentliches finden. Es gibt auch Gründe dafür, warum das erst in der Moderne so wichtig ist. Weil man mit seiner Zeit in industriellen Prozessen „wirtschaften“, sie also effektiv nutzen muss. Pünktlichkeit hat übrigens auch eine sozialphilosophische Komponente. Wer unpünktlich ist, signalisiert dem anderen: Deine Zeit ist mir weniger wichtig als meine. In jeder Unpünktlichkeit steckt die Missachtung desjenigen, den man warten lässt.
Wie „wertvoll“, kostbar, war Zeit?
Müller: Zeit hatte schon immer einen Wert. Aber ein Wert muss nicht immer mit einem Nutzen gleichzusetzen sein. Wobei bei näherem Hinsehen nicht die Zeit selbst den Wert bildet, sondern was man in dieser Zeit tut, wie man mit ihr umgeht. Was klar ist: Zeit ist etwas für den Menschen ganz Elementares. Interessant ist: Relativ unabhängig von den verschiedenen philosophischen Richtungen sind sich in der Antike alle einig, dass Zeit nur ein defizitärer Modus von Ewigkeit ist. Das Göttliche, das Ewige, das Zeitlose ist das eigentliche Gute. Bei Platon heißt es: Zeit ist das bewegte „Abbild“ der Ewigkeit. Und „Abbild“ ist bei ihm etwas Minderwertiges. In seiner Zeitlichkeit ist der Mensch minderwertig gegenüber einer höheren Dimension. Aber das hat sich im philosophischen Diskurs auch geändert: Wahres Sein ist ewiges Sein – diese Idee steht nicht mehr im Vordergrund. Zeit bekommt einen Eigenwert.
Wie wichtig war in der Vergangenheit die Strukturierung, die Gliederung der Zeit?
Müller: Zeit-Regime hat es schon immer gegeben . . .
Kurz eingehakt. Regime, das klingt negativ.
Müller: Das ist kein negativer Begriff, sondern neutral gemeint. Wir können Zeit-Regime ja auch selbst gestalten. Grundsätzlich hatte man immer schon soziale Zeit-Regime. Was heute viel größer ist als früher: die Omnipräsenz der präzisen Zeitmessung. Deshalb fühlt man sich manchmal gerade wohl, wenn man mal keine Uhr trägt. Wenn man ein Erlebnis nicht dadurch eingrenzt, dass man es zeitlich fasst.
Welche Bedeutung hatten Jahre?
Müller: Die ursprüngliche Form der Geschichtsschreibung, zum Beispiel der römischen, waren ja die sogenannten Annalen, die nach Jahren strukturiert waren. Die meisten Amtsträger in Rom waren auch immer für ein Jahr gewählt. Das Zeitverständnis früherer Epochen war stärker zyklisch ausgerichtet, in Kreisläufen. Die Jahreszeiten haben natürlich auch das Arbeitsleben in viel höherem Maße bestimmt. Und die Vorstellung war: So wie sich die Jahreszeiten drehen, dreht sich auch Geschichte im Kreis. In der Neuzeit entsteht die Fortschrittsidee: Wir drehen uns nicht im Kreis, wir kommen voran.
Halten Philosophen zum Jahreswechsel inne und reflektieren?
Müller: Philosophen halten, wenn sie sich selbst ernst nehmen, immer inne. In der Philosophie ist man immer aufgefordert, einen gewissen reflexiven Abstand zu den Dingen zu haben. Aber der Jahreswechsel legt die Rückschau natürlich nahe. Man wäre ein seltsamer Philosoph, wenn man sagte, erst zum Jahresende tue ich das, wozu ich immer bereit sein sollte: Nämlich von mir selbst und den Dingen so weit Abstand zu nehmen, dass man eine innere Bilanz ziehen kann.
Jörn Müller ist seit 2014 Professor für antike und mittelalterliche Philosophie an der Universität Würzburg. Der 48-Jährige hat in Bonn und Edinburgh studiert und war Unternehmensphilosoph bei der Biodata Information Technologie AG. Von 2007 bis 2010 hatte Jörn Müller in Würzburg eine Lehrstuhlvertretung am Institut für Philosophie inne, wechselte an die Uni Bochum und kehrte dann wieder zurück. Thema seiner Habilitationsschrift: „Willensschwäche im Denken der Antike und des Mittelalters. Eine Problemgeschichte von Sokrates bis Johannes Duns Scotus.“