
Es geht um viel Geld. 1,9 Milliarden Euro Betriebsvermögen, die man auf philippinischen Konten vermutet hatte, gibt es offenbar nicht. Das Geld ist erfunden. Die Bilanzen schön gerechnet. Die Geschichte vom erfolgreichen Digitalkonzern Wirecard, einem Zahlungsdienstleister mit Sitz in Aschheim bei München, der jedes Jahr zweistellig gewachsen ist, basiert auf Lug und Trug. Der ehemalige Chef der Firma, Markus Braun, hat sich der Staatsanwaltschaft gestellt. Ex-Manager Jan Marsalek ist auf der Flucht. Der Fall Wirecard entpuppt sich als Finanzskandal ungeheuren Ausmaßes.
Noch bevor alles aufflog, weckte der Fall Wirecard das Interesse des Würzburger Professors Hansrudi Lenz. "Weil es so ungewöhnlich war, dass ein Dax-Unternehmen die Veröffentlichung seines Jahresabschlusses mehrfach verschiebt." Der Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftsprüfung der Universität Würzburg, der sich seit mehr als 40 Jahren mit dem Berufsstand der Wirtschaftsprüfung befasst, vermutete: "Da ist etwas im Busch."
Er veröffentlichte einen Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Kurz darauf kommt es zum großen Knall. Und der Würzburger wird ein gefragter Ansprechpartner überregionaler Medien wie ARD, FAZ, Handelsblatt und Financial Times. Wir fragten den Experten im Interview: Was lief bei Wirecard eigentlich schief?
Hansrudi Lenz: Wirecard war ein interessanter Fall. Ich dachte, es gibt Schwächen in der Unternehmensführung. Dass aber wesentliche Teile des Geschäftsmodells auf Luftbuchungen und Betrug basieren, habe ich nicht geahnt. Das hätte ich mir in dieser Dimension nicht vorstellen können.
Lenz: Ich vermute, dass es eher eine Handvoll gut organisierter Leute waren, die das Ganze mit hoher krimineller Energie vorangetrieben haben. Denn je mehr Menschen involviert sind, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass etwas auffliegt.
Lenz: Hier haben mehrere Kontrollmechanismen versagt. Erstens: Die anderen Wirecard-Vorstände, die teils jetzt noch im Amt sind, haben die Bilanz auch unterschrieben. Warum haben sie nichts gemerkt? Zweitens: die Aufsichtsräte. Sie haben die Aufgabe, die Vorstände zu überwachen. Was haben sie getan? Drittens: die Wirtschaftsprüfer. Ernst & Young (EY) haben zwar im Juni 2020 die Reißleine gezogen und das Testat für den Abschluss 2019 verweigert. Doch von 2009 bis 2018 hat EY alle Bilanzen uneingeschränkt testiert. Dabei müssen Abschlussprüfer im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch Bilanzfälschungen erkennen. Viertens: die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR), eine privatrechtliche Institution, die die Wirecard-Bilanzen im Auftrag der staatlichen Finanzaufsicht Bafin hätte kontrollieren sollen. Warum ist sie auf die Hinhaltetaktik von Wirecard hereingefallen? Fünftens: Die Bafin selbst. Sie hätte früher reagieren müssen.
Lenz: Natürlich. Die Bafin kann Druck auf die Prüfstelle ausüben: Etwa: Geht mit mehr Leuten da rein! Wenn sie erhebliche Zweifel daran hat, dass das Verfahren ordnungsgemäß durchgeführt wird, kann sie laut Wertpapierhandelsgesetz sogar die Bilanzprüfung an sich ziehen.
Lenz: Ganz genau. Bei Wirecard haben alle Kontrollmechanismen versagt. Alle bis auf einen: die investigative Presse. Ein Journalist des Manager Magazins hat die richtigen Fragen gestellt. Seit 2015 gibt es eine Reihe investigativer Berichte in der Financial Times (FT). Die Reporter sind auf die Philippinen geflogen. Sie haben festgestellt: Es sind falsche Adressen. Irgendwelche Hinterhöfe. Diese Kunden von Wirecard gibt es gar nicht. Und doch haben alle Instanzen innerhalb und außerhalb des Unternehmens, beginnend mit den Wirtschaftsprüfern, den Aufsichtsräten und der staatlichen Finanzaufsicht, die schöne Story von Wirecard geglaubt.
Lenz: Aus heutiger Sicht war das verheerend. Aktionäre und Gläubiger dachten natürlich: Die angelsächsischen Journalisten wollen uns unsere deutsche Erfolgsstory kaputt machen. Wenn die Bafin nicht gegen Wirecard, sondern gegen die Journalisten vorgeht, zeigt uns das doch, dass unser Geld im Unternehmen gut angelegt ist.

Lenz: Er muss sehr charismatisch sein. Er hat schöne Zahlen geliefert: Die Umsätze, die Gewinne sind stetig gewachsen. Heute wissen wir: aufgrund von Luftbuchungen. Das Verstörende an dem Fall ist: Die Bilanzfälschung kam nicht aus heiterem Himmel. Sie kam mit Ansage. Mehrere Jahre lang gab es kritische Presseberichte. Und doch wurden alle Warnzeichen von den Verantwortlichen ignoriert.
Lenz: Vermutlich. Wirecard galt schon als zweites SAP. Ein erfolgreiches Digitalunternehmen in Deutschland, abseits der klassischen Geschäftsfelder wie der Automobilindustrie oder dem Maschinenbau. Alle wollten glauben, dass wir hierzulande ein neues Erfolgsmodell haben.
Lenz: Der Skandal hat massiv Vertrauen vernichtet: in den Finanzplatz Deutschland, in die Wirtschaftsprüfer, in die Aufsichtsinstanzen. Wenn sich herausstellt, dass ein Unternehmen, das 2018 in den Dax - das ist die Königsklasse für börsennotierte Unternehmen in Deutschland - aufgenommen wurde, vollständig auf Sand gebaut ist, dann ist das einer der größten Bilanzfälschungs- und Betrugsfälle seit der Nachkriegszeit.
Lenz: Nicht viel. Das Geld ist weg. Die Aktie ist wertlos. Die Insolvenzmasse wird sehr gering sein.
Lenz: Der Fall Wirecard hat die Schwächen des zweistufigen Systems der Bilanzkontrolle in Deutschland offengelegt: Das Zusammenspiel privatrechtlicher und staatlicher Institutionen hat versagt. In anderen Ländern gibt es staatliche Institutionen, die mehr Befugnisse haben als die deutsche Bafin. Darüber hinaus müsste Deutschland die EU-Whistleblower-Richtlinie umsetzen. Mit einem besseren Hinweisgebersystem könnten solche Fälle früher aufgedeckt werden.