Im Jahr 1997 konnte erstmals ein Computer einen amtierenden Schachweltmeister schlagen. Knapp 20 Jahre später, Anfang dieses Jahres, triumphierte ein Rechner mit der Google-Software „Deep Mind“ im „Go“-Spiel – einem der ältesten und komplexesten Spiele, die Menschen je entwickelt haben. Künstliche Intelligenz (KI) ist dem Menschen immer öfter nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen. Wie beunruhigend ist das? In der Debatte um die Folgen der Digitalisierung standen anfangs einfache, repetitive Arbeiten im Mittelpunkt: Tätigkeiten mit hohem Routineanteil werden in Zukunft von Computern oder Maschinen übernommen, so die weit verbreitete Annahme. Einfache Verwaltungsaufgaben in Unternehmen oder die Fließbandarbeit in der Fertigung. Geistig anspruchsvolle Arbeit werde dagegen auf absehbare Zeit exklusiv dem Menschen zustehen.
Spätestens seit dem Erfolg von künstlicher Intelligenz in konkreten Anwendungen muss dieses Bild korrigiert werden. Denn in vielen Fällen ist die KI exakter und effizienter als der menschliche Verstand. Auch hoch qualifizierte Berufe müssen sich auf die Konkurrenz durch wissensbasierte Systeme einstellen. Verschwinden werden die Berufe nicht. Aber das Potenzial künstlich intelligenter Systeme ist enorm – und wird von Jahr zu Jahr größer.
Die Treiber dieser Entwicklung sitzen nicht nur in den Zentralen von Google, IBM und Co: In Würzburg wurde in den letzten Jahren im Stillen eine Software entwickelt, die die Tätigkeit von Menschen teilweise übernimmt und ein ganzes Berufsbild in der Zukunft stark verändern wird: das der Unternehmensberater.
Die Grundlage dafür hat der Unternehmer und Professor Rainer Thome gelegt, dessen Firma IBIS AG unterhalb der Festung Marienberg ihren Sitz hat und seit mehr als 20 Jahren in der betrieblichen Informationsverarbeitung tätig ist. Vor etwa drei Jahren meldete sich die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC bei der kleinen Forschungsboutique mit ihren 35 Mitarbeitern. Der Grund: Schon seit vielen Jahren wird in Würzburg an der Entwicklung intelligenter Systeme geforscht.
So hat das Unternehmen wertvolles Wissen angesammelt, das nun die Digitalisierung der Wirtschaftsprüfungssparte bei PwC vorantreibt: „Bei der Prüfung von Unternehmen ergeben sich durch den Einsatz moderner Technologien neue Möglichkeiten. Dank der Digitalisierung können Geschäftsvorfälle nahezu vollständig analysiert werden – und zwar in kürzerer Zeit als bei herkömmlichen Prüfungstechniken“, sagt Petra Justenhoven, Vorstand und Leiterin des Bereichs Wirtschaftsprüfung bei PwC in Deutschland. „Dadurch sind wir in der Lage, Risiken oder auch Fehler in der Rechnungslegung gezielter und früher zu identifizieren und darauf zu reagieren“. An Thomes IBIS AG hält PwC inzwischen 25 Prozent. Die Forschungsfirma hat sich auf SAP spezialisiert – den deutschen Marktführer für sogenannte ERP-Systeme, also für Programme, die Unternehmen helfen, den Einsatz ihrer Ressourcen möglichst effizient zu steuern. Gemeinsam haben PwC und IBIS eine Software entwickelt, die die unternehmensspezifische Ausgestaltung und die Inhalte von SAP-Systemen automatisiert analysiert.
„Jedes größere Unternehmen hat ein betriebliches ERP-System, das alle für die Prüfung relevanten Daten direkt bei ihrer Entstehung erhebt und sammelt“, sagt Thome. „Es liegt auf der Hand, diese Daten bei der Prüfung umfassend zu analysieren und intelligent zu kombinieren, um den Prüfer bei seiner Arbeit zu unterstützen“. Dazu wird zunächst im SAP-System des Unternehmens ein Programm abgelegt, das alle benötigten Daten einsammelt. Im PwC-Rechenzentrum werden diese Daten dann aufbereitet, verarbeitet, visualisiert und schließlich dem Prüfer zur Verfügung gestellt. „Über die Jahre hinweg haben wir zigtausende von Regeln entwickelt, nach denen die Analysesoftware arbeitet“, sagt Thome. PwC hat eine Vielzahl für Prüfungszwecke angepasst und weitere spezifische Prüfregeln definiert, die es erlauben, auch riesige Mengen an Buchungen vollständig und gezielt mit den virtuellen Augen eines Wirtschaftsprüfers zu durchleuchten. In der Praxis hat sich die Software bewährt: Im vergangenen Jahr wurde die Technik bereits bei rund 100 Unternehmen in Deutschland erfolgreich eingesetzt, weitere werden folgen.
Das Berufsbild des Wirtschaftsprüfers, der mit Aktentasche bewaffnet in die Konzernzentralen marschiert, wird sich durch die in Würzburg angestoßene Automatisierung verändern. „Das heißt natürlich nicht, dass der Beruf des Wirtschaftsprüfers an sich verschwindet“, konstatiert Petra Justenhoven. Auch weiterhin wird es Aufgaben geben, die nur ein Mensch lösen kann: „Datenanalysen haben ein enormes Potenzial im Hinblick auf das „Aufspüren“ von Auffälligkeiten, deren Würdigung erfordert allerdings prüferisches Ermessen“, erklärt Justenhoven. Für einfachere Aufgaben braucht es in Zukunft allerdings keine hoch bezahlten Spezialisten mehr: „Die Entwicklung dürfte dazu führen, dass der Wirtschaftsprüfer sich auf komplexere Fragestellungen konzentrieren kann, während einfachere Arbeiten von eigens ausgebildeten Fachkräften übernommen werden.“ Weltweit schaffen Innovationen wie die der Würzburger Wirtschaftsprüfungs-Software Herausforderungen für etablierte Unternehmen.
Denn diese führen im besten Fall zu erheblichen Wettbewerbsvorteilen und können ganze Geschäftsmodelle der Mitbewerber bedrohen. In den Unternehmenszentralen macht derzeit der Fachbegriff der „disruptiven Innovation“ die Runde – eine Innovation, die eine bestehende Technologie oder Dienstleistung verdrängt. Die Weiterentwicklung von künstlicher Intelligenz könnte in der Zukunft für sehr viele solcher Innovationen sorgen. Unternehmen tun deshalb gut daran, sich und ihre Mitarbeiter aktiv auf den Einsatz neuer Technologien vorzubereiten: „Wir formen strategische Partnerschaften, wie die mit der IBIS, um über innovative Produkte zu verfügen“, erklärt Justenhoven die Digitalisierungsstrategie bei PwC. „Wir investieren kräftig in die Entwicklung digitaler Technologien, aber auch in die Aus- und Fortbildung unserer Mitarbeiter sowie in Neueinstellungen von Vertretern der sogenannten ,MINT'-Bereiche.“
Eine jüngst veröffentlichte Studie der Agentur für Arbeit gibt Aufschluss darüber, wie viele Tätigkeiten in den einzelnen Berufen der Digitalisierung tatsächlich zum Opfer fallen könnten. Die gute Nachricht: Fast kein Beruf wird durch die Digitalisierung vollständig zum Auslaufmodell. Die schlechte Nachricht der Studie: Die Anzahl der Tätigkeiten in den einzelnen Berufen, die in Zukunft der Computer oder von ihm gesteuerte Maschinen übernehmen, ist groß. Auch ein hoher Bildungsstand schützt nur bedingt: Laut der Studie beträgt das sogenannte Substitutionspotenzial von einzelnen Tätigkeiten in den Spezialistenberufen mit Bachelor- oder Masterausbildung 33,4 Prozent.
Das ist nur geringfügig weniger als bei den Helfer- (46 Prozent) und Fachkraftberufen (45,4 Prozent). Erst ein Masterabschluss oder ein Doktortitel verringert das Digitalisierungspotenzial im eigenen Beruf deutlich (18,8 Prozent). Aufgeschlüsselt auf einzelne Branchen ergeben sich hier gravierende Unterschiede. Sicher ist jedoch, dass die Digitalisierung in nahezu jeder Branche die Berufsbilder verändert – und zu einem Produktivitätsschub der einzelnen Mitarbeiter führen wird. Welche Konsequenzen sich daraus entwickeln werden, ist momentan kaum absehbar.
Die Digitalisierung ist nicht nur eine technische, sondern vor allen Dingen auch eine gesellschaftliche Herausforderung: „Wir müssen sicherstellen, dass die digitale Revolution mehr Gewinner hervorbringt als Verlierer“, mahnte der amerikanische Vizepräsident Joe Biden am Anfang des Jahres auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. „Das ist das, was unsere Vorgänger in früheren industriellen Revolutionen auch getan haben. Aber dieses Mal wird es schwerer werden.“