Das hat den Euro-Rettern noch gefehlt: Datenfehler und Zweifel an der Methodik erschüttern das Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse, auf die sich ihr Krisenmanagement stützt. Die Diskussion, ob drastische Budgetkürzungen Volkswirtschaften im Abwärtssog helfen oder sie weiter fallen lassen, erhält neues Futter. Denn eine einflussreiche Studie, mit der Forderungen nach radikalen Sparmaßnahmen in Krisenländern begründet wurden, steht nun massiv in der Kritik. Das ist brisant – nicht nur für die Euro-Topentscheider, sondern auch für die Wirtschaftswissenschaften insgesamt. Es geht um eine entscheidende Frage: Wann sind die Schulden so hoch, dass sie ein Land wirtschaftlich abwürgen? Unter Attacke steht folgende These: Staatsschulden in Höhe von mehr als 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verhindern Wachstum, erdrücken also die Wirtschaft. Zu diesem Ergebnis kamen die Star-Ökonomen Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart von der US-Eliteuni Harvard. Deshalb sollte die Quote unbedingt unter dieser Schwelle gehalten werden, so das Fazit der Analyse.
Aufgegriffen wurden die Argumente von Euro-Politikern wie Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) oder Währungskommissar Olli Rehn, um die umstrittenen Sparauflagen gegenüber hilfsbedürftigen Mitgliedsländern zu rechtfertigen. Nun sehen alle Beteiligten plötzlich schlecht aus.
Denn Rogoff, ehemals Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds (IWF), und Reinhart sollen gepfuscht haben. Das behaupten die Fachkollegen Thomas Herndon, Michael Ash und Robert Pollin von der Universität von Massachusetts. Sie haben die Modelle nachgerechnet und sind zu dem Schluss gekommen, dass eine Schuldenquote von mehr als 90 Prozent die Wirtschaft eben nicht – wie von Rogoff und Reinhart ermittelt – schrumpfen ließ, sondern im Schnitt sogar ein BIP-Wachstum von 2,2 Prozent ermöglichte. Gegner der strikten Sparpolitik, wie zum Beispiel Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, triumphierten. „Ich habe nie an die Ergebnisse geglaubt“, schrieb Krugman in seiner Kolumne in der „New York Times“.
Die beiden Harvard-Professoren haben bereits Pannen bei der Dateneingabe in das Computerprogramm Excel eingeräumt. Doch diese Rechenfehler machen anscheinend nur einen kleinen Teil der Abweichungen aus. Die Kritik der Fachkollegen wiegt schwerer: Datensätze und historische Zeitfenster, die wohl nicht zur These passten, sollen nicht berücksichtigt worden sein. Rogoff und Reinhart wehren sich gegen diese Vorwürfe, wollen sich aber intensiv damit auseinandersetzen. Das Vertrauen in ihre Arbeit hat schon jetzt gelitten. Das Image der Wirtschaftswissenschaften, denen viele Kritiker vorwerfen, bereits das Aufziehen der Finanz- und Schuldenkrise verschlafen zu haben, erhält weitere Risse. Was bedeutet dieses Schlamassel für das weitere Krisenmanagement im Euroraum?
Nicht viel, meint US-Ökonom Tyler Cowen, Professor an der George Mason University: Die Forderung nach strikter Sparpolitik beruhe nicht in erster Linie auf der Studie von Rogoff und Reinhart, sondern vielmehr auf dem einfachen Gedanken, dass Rechnungen eben bezahlt werden müssten. Cowen nimmt die beiden kritisierten Kollegen in Schutz: Sie hätten stets betont, dass der ermittelte Zusammenhang zwischen Staatsschuldenquote und Wachstumspotenzial nicht die Regel sein müsse. Was die Euro-Rettung angeht, scheint ohnehin langsam ein Umdenken stattzufinden. Nachdem sich das radikale Kürzungsprinzip beispielsweise in Griechenland als verfehlt erwiesen hat, sollen Euro-Krisenstaaten wie Irland, Portugal und Spanien nun mehr Zeit erhalten, um ihre Schuldenberge abzubauen.