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WÜRZBURG
Wenn das Produkt mitdenkt: Industrie 4.0 bewegt Mainfranken
Industrielle Fertigung mittels Lasertechnologie. Wegen der Digitalisierung steht die Wirtschaft vor einem Umbruch.
Foto: Thinkstock | Industrielle Fertigung mittels Lasertechnologie. Wegen der Digitalisierung steht die Wirtschaft vor einem Umbruch.
Jürgen Haug-Peichl
 |  aktualisiert: 27.04.2023 01:27 Uhr

Angenommen, die Firma Mustermann stellt hochwertige Füllfederhalter her. Eines Tages flattert ein Auftrag mit geringer Stückzahl und individuellen Wünschen ins Haus. Wenn der Firmenchef nun Mensch, Maschine und Digitales hochgradig miteinander vernetzt und dadurch den Mini-Auftrag profitabel umsetzt, dann sprechen wir womöglich von „Industrie 4.0“.

2011 kam diese Umschreibung für die „vierte industrielle Revolution“ zum ersten Mal auf. Mittlerweile ist ein Rummel daraus geworden, auch in Mainfranken. Experten sagen unisono, dass die Wirtschaft vor einem fulminanten Wandel stehe.

Doch was auf die Firmen genau zurollt, ist oft nicht klar – was auch daran liegen mag, dass Industrie 4.0 eine Menge Kunstwörter und vor allem englische Begriffe nach sich zieht wie „Smart Factory“, „Augmented Reality“ oder „Internet of Things“.

Mittlerweile gibt es jede Menge Fachliteratur und Diskussionsveranstaltungen zur neuen Revolution zwischen Werkbank und Fließband. Auf der renommierten Hannovermesse (25. bis 29. April) wird Industrie 4.0 erneut ein Top-Thema sein, mainfränkische Unternehmen sind vertreten.

Mensch und Maschine

Das war es auch vergangene Woche beim Medientreffen der unterfränkischen Wirtschaft in Würzburg. Der Bezirksvorsitzende des Verbandes der bayerischen Wirtschaft (vbw), Wolfgang Fieber, war sich sicher: „Die Digitalisierung wird alle Wirtschaftszweige mitreißen.“

Für unsere Mustermann-Firma mit den Füllfederhaltern kann „Industrie 4.0“ bedeuten: Ein Mitarbeiter schaut sich den Entwurf des Kundenwunsches mit einer Datenbrille an, erfasst dabei alle Daten zum neuen Auftrag. Weil die Stückzahl gering ist, kommt es nun darauf an, die Produktion so kostengünstig wie möglich zu gestalten. Deswegen kommunizieren Mensch, Maschine und Produkt gleichwertig miteinander.

Heißt: Alle Einzelteile des entstehenden Füllfederhalters tragen sämtliche relevanten Daten über sich zum Beispiel in Form von Balkencodes oder Funkchips bei sich: Form, Größe, Beschaffenheit, Oberflächentemperatur und so weiter.

Kaum steckt etwa die Füllfeder-Hülle in der Maschine zum Lackieren, liest diese Maschine selbstständig, welche Lackfarbe in welcher Menge an welcher Stelle aufgesprüht werden muss. Die entnommene Menge an Lack wird gespeichert – muss Nachschub her, meldet das die Maschine an die Lagerhaltung, von wo aus ein selbstfahrender Roboter den Lack bringt und nachfüllt. Gleichzeitig wird der mit der Firma Mustermann verbundene Lacklieferant digital informiert, dass der Lackvorrat allmählich zur Neige geht und Nachschub her muss.

Keine PCs mehr notwendig

Die Vernetzung im Sinne von Industrie 4.0 geht noch weiter: Kaum wird der Lack geliefert, sieht der Lagerverwalter von Mustermann mit Hilfe einer Datenbrille genau, in welches der vielen Lagerregale er den neuen Lack ablegen muss.

Kaum steht die Lieferung dort, „weiß“ die Lack sprühende Maschine wiederum, dass das Lager aufgefüllt worden ist. Und die Datenbank der ebenfalls mit Mustermann digital vernetzten Recyclingfirma erfährt auf diesem Weg gleich, was später einmal bei der Wiederverwertung eben jener Füllfederhalter zu beachten ist. Dieses konstruierte Beispiel zeigt: Bei Industrie 4.0 fallen Schranken – echte und solche in den Köpfen der Unternehmer.

  • Beispiel HandyGames in Giebelstadt: Apps für Industrie 4.0
Neues Denken muss her, auch was den Einsatz von Hilfsmitteln angeht. „Es reicht nicht, einen Mitarbeiter zu haben, der am Smartphone eine App bedienen kann“, sagte kürzlich der Bad Neustadter Werksleiter bei Siemens, Peter Deml, im Rahmen der Diskussionsrunde „Denker treffen Lenker“, zu der die Region Mainfranken GmbH nach Würzburg eingeladen hatte.

Manfred Wittenstein drückte es dort anders aus: „Wir werden unsere gesamten Geschäftsmodelle in Frage stellen müssen.“ Der Aufsichtsratsvorsitzende der als besonders innovationsfreudig geltenden Wittenstein AG in Harthausen (Main-Tauber-Kreis) hat festgestellt, dass in puncto Industrie 4.0 „noch sehr, sehr viele Unternehmen abwarten“.

Was schlecht sei, denn: „Das ist ein gewaltiges Potenzial, was da auf uns zukommt." Es gelte künftig, individuelle Produkte zu Preisen von Massenprodukten herzustellen. „Wir sind alle noch am Anfang“, so Wittenstein. Der Manager zeigte, wie dieser Spagat funktionieren kann: Seine Firma setze digitale Plantafeln ein, auf die jeder Mitarbeiter in der Produktionskette Zugriff habe. Die Daten lägen teilweise in der „digitalen Wolke“ (Cloud), so dass auch andere, mit Wittenstein zusammenarbeitende Unternehmen darauf zugreifen können.

Zuversicht in Mainfranken

Zuversicht herrscht bei Experten in der Region, weil Mainfranken für die Industrie 4.0 gut aufgestellt sei. Grund: Wirtschaft und Wissenschaft seien schon miteinander verbunden, wenn es um die ersten Schritte bei der neuen Revolution geht.

So wurde bei dem Treffen „Denker treffen Lenker“ verdeutlicht, dass sich zum Beispiel die Hochschulen in Würzburg, das Fraunhofer-Institut, das Zentrum für Telematik und das Süddeutsche Kunststoffzentrum (SKZ) zusammengetan haben, um herauszufinden, wie beim Recycling von Kunststoffen wieder hochwertige Rohstoffe für den Produktionskreislauf entstehen.

Oder die Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt, auch bekannt als Fachhochschule: Dort entsteht eine „iFactory“, wo im Modell Mensch und Maschine gleichberechtigt zusammenarbeiten. Ähnliches soll in einer auf Spritzguss spezialisierten Modellfabrik des Würzburger SKZ ausgeklügelt werden.

Wenn das Produkt mitdenkt und der Maschine sagt, was sie zu tun hat: Auch so lässt sich Industrie 4.0 umschreiben. Aus diesem Grund steht bei unserer Firma Mustermann auch kein klassischer Personal Computer (PC) mehr in der Produktionshalle. Warum auch: Die Daten stecken ja schon im Produkt.



Literatur und Denkanstöße zu der „vierten industriellen Revolution“ gibt es haufenweise. So hat die Bundesregierung eine eigene Internetseite zum Thema aufgelegt mit Basisinfos, Debatten, Lexikon und Erfahrungsberichten.

Eine digitale Broschüre zu Industrie 4.0 mit Beispielen aus der Praxis– darunter Bosch Rexroth (Lohr/Main) und Schaeffler (Herzogenaurach) – hat der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) herausgegeben.

Einen Leitfaden rund um Digitalisierung im Mittelstand hat die Industrie- und Handelskammer München/Oberbayern herausgebracht. Darin geht es unter anderem um Tipps an Firmen für die ersten Schritte sowie Chancen und Risiken von Industrie 4.0.

Umsatzsteigerung um bis zu zehn Prozent durch Industrie 4.0: Davon geht die deutsche Wirtschaft mehrheitlich aus. Das hat der Verband der digitalen Branche, Bitkom, in einer Umfrage herausgefunden. Der Verband hat in einem Online-Extra viele Tipps und Anregungen zu Industrie 4.0 zusammengefasst.

 
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