Zehn Jahre lang hatte die EU-Kommission versucht, die Bastion Volkswagen zu schleifen. Am Dienstag wies der Europäische Gerichtshof (EuGH) in letzter Instanz eine Klage gegen das sogenannte VW-Gesetz zurück. „Deutschland ist seinen Verpflichtungen zur Überarbeitung nachgekommen“, urteilten die Richter in Luxemburg. Wenig später gab auch EU-Binnenmarkt-Kommissar Michel Barnier auf: „Die Sache ist beendet und vom Tisch“, erklärte er in Brüssel. „Die Vernunft hat heute über marktradikale Ideologie gesiegt“, zeigte sich der niedersächsische SPD-Europa-Abgeordnete Matthias Groote erfreut. Seit 2003 zog die EU-Verwaltung gegen das „Gesetz über die Überführung der Anteilsrechte an der Volkswagen Gesellschaft mit beschränkter Haftung in Private Hand (VWGmbHÜG)“ zu Felde. Ihr Verdacht: Die als zu hoch eingeschätzten Schutzrechte stellen einen Verstoß gegen die in der EU geltende Kapitalverkehrsfreiheit dar.
Investoren würden abgeschreckt, sich bei Deutschlands Autobauer Nummer eins zu engagieren. Im Kern ging es um drei Punkte: Erstens erlaubte das VW-Gesetz dem Bund sowie dem Land Niedersachsen, jeweils zwei Vertreter in den Aufsichtsrat zu entsenden. Zweitens war das Stimmrecht der Aktionäre auf 20 Prozent beschränkt worden – unabhängig von der Frage, wie viel Aktien jemand tatsächlich hielt. Und drittens hatten die Väter des Gesetzes eine Speerminorität für jene ersonnen, die mindestens 20 Prozent Aktien an VW halten. Marktüblich sind 25 Prozent.
2007 rügte der EuGH schon einmal diese drei Punkte. Deutschland korrigierte daraufhin die Volkswagen-Vorschriften, hielt aber an der Sperrminorität fest und sicherte so dem Land Niedersachsen eine komfortable Rolle, die selbst dem deutschen Aktiengesetz widerspricht.
Die Kommission wollte diese nur teilweise Umsetzung der EuGH-Entscheidung nicht akzeptieren und forderte neben einer erneuten Verurteilung eine Strafe von 300 000 Euro am Tag zuzüglich rund 70 Millionen für die seit dem ersten Richterspruch vertane Zeit. Doch die Luxemburger Juristen stoppten den Rachefeldzug Brüssels: Die herabgesetzte Sperrminorität sei nur in Verbindung mit dem Höchststimmrecht ein Verstoß. Für sich genommen könne sie durchaus bestehen bleiben.
Hinter den juristischen Feinheiten stehen konkrete Auswirkungen für den unternehmerischen Alltag. So sind Werksschließungen oder Verlagerungen von Produktionsstätten nur mit Zustimmung des Landes Niedersachsen möglich, das 20,1 Prozent der Aktien hält. Politik und Gewerkschaften sehen allein in dieser Möglichkeit ein wichtiges Instrument, um eines der wichtigsten deutschen Unternehmen vor feindlichen Übernahmen und damit vor der Abwanderung von Jobs in Billiglohnländer zu schützen. Die Kommission hatte dagegen stets bestritten, die Mitbestimmung der Arbeitnehmer aushebeln und den wirtschaftlichen Erfolg des VW-Konzerns untergraben zu wollen. „Das VW-Gesetz ermöglicht die politische Einflussnahme auf Unternehmensentscheidungen und schreckt so Investoren ab“, argumentierte eine Sprecherin Barniers noch vor wenigen Tagen. Doch lag die Niederlage der EU-Verwaltung bereits in der Luft. Zu der Frage, ob die Sperrminorität Niedersachsens für sich genommen gegen EU-Recht verstößt, äußerte sich das Gericht nicht ausdrücklich. Dies sei nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens, hieß es. Man habe nur untersuchen müssen, ob Deutschland dem geforderten Gesamtpaket von Änderungen nachkam. Theoretisch ist damit noch ein Hintertürchen für Klagen offen.
Aktenzeichen: EuGH-Rechtssache C-95/12
VW-Gesetz
Das sogenannte VW-Gesetz entstand 1960, als der Auto-Konzern von einer GmbH in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und privatisiert wurde. Die starke Stellung des Bundes sowie des Landes Niedersachsen, aber eben auch der Arbeitnehmer war eine Rückbesinnung auf die nationalsozialistische Zeit, als der Autobauer unter anderem aus enteignetem Vermögen der zerschlagenen Gewerkschaften entstand.
Das Bundesverfassungsgericht überprüfte damals die Umwandlung und befand sie für gut, 1970 ließ das Gericht in Karlsruhe eine weitere Klage gar nicht erst zu. Die Schwierigkeiten begannen 2003, als der damalige EU-Kommissar Frits Bolkestein das VW-Gesetz als Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit der EU brandmarkte und Änderungen einforderte. Nachdem Deutschland nicht reagierte, beschloss die Kommission im Dezember 2004 eine Klage vor dem EuGH.
Der damalige Porsche-Chef Wendelin Wiedeking hoffte, dass die EU-Richter alle Sonderregelungen kippen würden, um Volkswagen dann komplett übernehmen zu können. Der Plan ging schief. Als das Urteil 2007 schließlich vorlag, korrigierte die Bundesrepublik zwei der drei beanstandeten Punkte. Die Kommission reagierte 2008 mit einer erneuten Klage, die jetzt abgewiesen wurde. Text: drewes