
Selbst ein Blumenstrauß ist unter Verdacht geraten. Als sich die Veranstalter eines Kongresses bei den Organisatorinnen damit bedanken wollten, bekamen sie die Sträuße zurück: Bestechungsgefahr, mit den Vorschriften für gute Unternehmensführung nicht zu vereinbaren. „Compliance“ heißt das Schlagwort, das die Beschäftigten in vielen Firmen in Deutschland inzwischen zur Verzweiflung treibt – und Heerscharen von Juristen Spitzenhonorare einbringt. Vor allem in kleineren Firmen wissen Mitarbeiter kaum noch, was im Geschäftsverkehr erlaubt ist.
„Es gibt eine gewisse Unsicherheit bei den Firmen“, sagt Heiko Willems. Der Jurist leitet die Rechtsabteilung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) und bekommt regelmäßig Anfragen von verunsicherten Firmen. Während die großen Konzerne fast alle einen eigenen Compliance-Officer samt angehängter Rechtsabteilung beschäftigen, sind viele kleine Firmen überfordert – zumal die Konzerne ihre eigenen Standards inzwischen auch von kleinsten Zulieferern verlangen. Aber juristischer Rat ist teuer: Stundensätze von 250 Euro für Rechtsanwälte mit Compliance-Schwerpunkt gelten als üblich. Der englische Begriff Compliance bezeichnet die Einhaltung von Verhaltensmaßregeln, Gesetzen und Richtlinien. Grundsätzlich, da sind sich alle einig, sind derartige Regeln für saubere Unternehmensführung richtig und wichtig. Spätestens seit dem milliardenschweren Siemens-Schmiergeldskandal ist klar, dass Korruption keinen Platz in der deutschen Wirtschaft haben darf und hart bestraft wird. In den Konzernen ist die Warnung angekommen. Alle großen Unternehmen haben nach der Siemens-Affäre eigene Verhaltenskodizes aufgestellt, die von eigenen Compliance-Abteilungen überwacht werden. Darin werden die Mitarbeiter angewiesen, sich an die Korruptionsverbote zu halten und Gesetze zu befolgen. Konkrete gesetzliche Vorgaben gibt es aber nicht. „Der Rechtsrahmen ist nicht 100-prozentig klar“, sagt Jurist Willems. Viele Firmen behelfen sich daher mit selbst gesteckten Obergrenzen und verbieten beispielsweise die Annahme von Geschenken mit einem Wert von mehr als 30 Euro. Sollte es zu einem Prozess vor Gericht kommen, hätten diese Grenzen aber nicht unbedingt Bestand, da sie nicht im Gesetz festgeschrieben sind. Genau diese Unsicherheit führt nach Einschätzung von Experten dazu, dass es viele Firmen übertreiben: Aus Angst vor einem Verstoß gegen die Compliance-Regeln werden Kongresse in möglichst unattraktiven Autobahn-Hotels abgehalten, kleine Werbe- geschenke ungeöffnet zurückgeschickt und Wasser statt Wein zum Abendessen gereicht. Ein Medizintechnikhersteller wollte seine Kunden bei einer Tagung in Hongkong in der Jugendherberge unterbringen, um jeden Anschein einer Lustreise zu vermeiden. Fast jeder Manager kann derartige Anekdoten über den „Compliance-Wahnsinn“ im kleinen Kreis zum Besten geben. Öffentlich will aber kaum jemand darüber sprechen.
Willems plädiert für eine Portion Bauchgefühl. Jeder Mitarbeiter müsse sich bei der Einladung eines Kunden fragen, ob er privat in ein Sterne-Restaurant gehen würde oder der Italiener an der Straße ausreichend wäre. „Innerhalb der Betriebe erfordert die gelebte Compliance ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl“, bestätigt auch der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (vbw), Bertram Brossardt. Der Siemens-Konzern hat aus seinen Erfahrungen mit einem Zuviel an Vorschriften bereits gelernt und das Regelwerk für die Beschäftigten entschlackt. Die strengsten Regeln gibt es bei Siemens– wie bei allen Konzernen – im Umgang mit öffentlichen Amtsträgern. Mitarbeiter eines Ministeriums, raten Juristen, sollten vorsichtshalber gar nicht ins Restaurant eingeladen werden – sondern lieber in die Kantine.