Fiat ist Käse“ – das war nur einer der Sprüche, die die italienische Presse in dieser Woche hämisch über den Autobauer goss, auf den man einst so stolz war. Denn die „Fabricca Italiana Automobili Torino“ (Fiat) verlässt ihren Stammsitz in Turin und richtet sich mit ihrem neuen US-Partner Chrysler ausgerechnet im Land der Grachten und des Gouda eine neue Firmenzentrale ein. Dass das neue Unternehmen „Fiat Chrysler Automobiles“ (FCA) in einem Land sitzen wird, in dem es kein einziges Auto baut, ist nicht neu. Starbucks, Microsoft, Apple, BASF, ja sogar Popstars wie Elton John und die Rolling Stones residieren irgendwo zwischen Amsterdam, Den Haag und dem Ijsselmeer. Die Niederlande sind „in“. 12 000 ausländische Firmen, darunter 800 deutsche, wanderten bereits aus, 85 Prozent betreiben mitarbeiterfrei nicht mehr als einen Briefkasten.
Der Grund: Sie sparen Steuern. Einer Studie der Stiftung für wirtschaftliche Forschung (SEO) zufolge bis zu 30 Milliarden Euro im Jahr. Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa (OECD) flossen 2012 rund 2,7 Billionen Euro an ausländischem Kapital in die Niederlande. Nur 573 Milliarden kamen in der Realwirtschaft an, der Rest landete bei Briefkastenfirmen. „Die Niederlande sind die neuen Bermudas“, schimpfen Grüne und Sozialdemokraten regelmäßig im Parlament. Der Vergleich hinkt, denn diese Praxis ist weder illegal noch geheim, sondern geltendes Steuerrecht. Schon die niedrige Quellensteuer von 15 Prozent gilt vielen Vorständen als überaus reizvoll. Aber wer mit Lizenzgebühren zu tun hat, kann in den Niederlanden hohe Abgaben verhindern. Beispiel Starbucks. Die Firmenzentrale in der Amsterdamer Rembrandtplein ist gerade mal 479 Quadratmeter groß und wird von einer Kaffeebar beherrscht. Für jeden Cappuccino oder Latte Macchiato, der in einem europäischen Laden des US-Konzerns ausgeschenkt wird, fallen sechs Prozent Lizenzgebühren an, die an die Grachten fließen. Damit drosselt man den Gewinn vor Ort, während die Konzernzentrale nur wenige oder keinen Euro an den Fiskus abführen muss. Sogar die legendäre Rockband U2, deren Sänger Bono gerne den Reichtum der Industriestaaten anprangert, hat sich in den Niederlanden registriert, um Abgaben auf Lizenzgebühren zu verhindern.
Doch das vermeintliche Erfolgsmodell gilt als umstritten – gerade weil es zwar Steuern sparen hilft, aber „Jan Modaal“ (wie der Holländer seinen Otto Normalverbraucher nennt) praktisch nichts bringt. Im Gegenteil: Die Mehrzahl der Einwohner zahlt zwischen 39 und 52 Prozent Einkommensteuer. Der Spitzensatz gehört zu den höchsten in Europa. Da wächst die Zahl derer, die unter der Armutsgrenze von 990 Euro für Alleinstehende und 1850 Euro für eine vierköpfige Familie liegen. 1,2 Millionen waren 2013 betroffen, heißt es beim Centraal Bureau voor de Statistiek, wie das Pendant des Statistischen Bundesamtes heißt. Weitere zehn Prozent der Haushalte seien gefährdet. Die niederländische Regierung unter dem rechtskonservativen Mark Rutte steckt in handfesten Schwierigkeiten. Seit vier Jahren geht das Wachstum zurück, 2014 wird ein mageres Plus von 0,5 Prozent erhofft. Deutlich weniger als der EU-Durchschnitt von 0,9 Prozent. Diese Entwicklung gehört zu den Folgen einer geplatzten Immobilienblase, die die Banken an den Rand des Ruins brachte und die US-Ratingagentur Standard & Poor’s im November veranlasste, dem Land die AAA-Bestnote zu entziehen. Jahrelang konnten Hauskäufer ihre Hypothekenzinsen vollständig von der Steuer absetzen. Banken durften Kredite bis zu 106 Prozent des Kaufpreises gewähren. In der Folge purzelten die Haus- und Wohnungspreise seit 2008 um rund 20 Prozent. Heute sind die privaten Haushalte völlig überschuldet. Der Staat ebenfalls. Die Verschuldung liegt bei 76,4 Prozent der Wirtschaftsleistung, die Neuverschuldung dürfte frühestens 2015 wieder die Maastrichter Drei-Prozent-Hürde unterschreiten. Dramatisch fallen die Konsequenzen für den Arbeitsmarkt aus: Zwar klingt eine Erwerbslosenquote von sieben Prozent nicht besorgniserregend hoch. Aber die Niederlande gehören zu den Ländern mit der am schnellsten steigenden Zahl von Menschen ohne Job.
Die Regierung bemüht sich mit allen nur denkbaren Mitteln, Kaufkraft zu schaffen – oder bei den Nachbarn abzusaugen.
Ladenschlussgesetze wie in Deutschland gibt es seit langem nicht mehr. Die Factory Outlet Center und Shopping Malls entlang der deutschen Grenze haben an 365 Tagen im Jahr geöffnet. An deutschen Feiertagen sind die Zufahrtsstraßen regelmäßig verstopft. Ob die lukrativen Steuerbedingungen von Dauer sind, bleibt offen. Denn inzwischen hat die Diskussion einen neuen, europakritischen Dreh bekommen. Enthüllungen zufolge schafften nämlich auch zahlreiche griechische Konzerne ihre Milliardengewinne ins Land, während die niederländischen Steuerzahler gleichzeitig milliardenschwere Garantien aufbringen müssen, um Athens Überleben zu sichern. Das ergibt reichlich Zündstoff.