Noch wenige Stunden vor der dramatischen Leitzinserhöhung der türkischen Zentralbank betonte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Unabhängigkeit der Währungshüter. „Ich habe natürlich keine Befugnis, bei der Zentralbank zu intervenieren“, sagte Erdogan. Mit seiner Botschaft hielt der angeschlagene Regierungschef trotzdem nicht hinterm Berg: „Ich bin wie immer auch heute gegen Zinserhöhungen.“ Diesmal setzte sich die Zentralbank allerdings über Erdogans Wünsche hinweg – sie zog die Notbremse, um den Verfall der Lira zu stoppen.
„Stehe aufrecht“, hatte die regierungstreue Zeitung „Yani Safak“ noch am Dienstag an die Adresse von Notenbankchef Erdem Basci getitelt. „Erhöhe nicht“. Basci sah aber offenbar keine Alternative mehr, nachdem Stützungskäufe in der vergangenen Woche wirkungslos geblieben waren. Viel Spielraum für Interventionen am Devisenmarkt dürfte der Bank nicht mehr bleiben: Nach Schätzungen sind die Devisenreserven auf etwa 34 Milliarden Dollar zusammengeschmolzen. In der Nacht zu Mittwoch erhöhte die Zentralbank den Leitzins von 4,50 auf 10,00 Prozent – viel stärker, als Beobachter erwartet hatten. Nach Angaben der Zentralbank war die Inflationsrate in der Türkei Ende vergangenen Jahres auf 7,4 Prozent gestiegen – deutlich über dem Ziel von fünf Prozent.
1,5 Prozentpunkte zu der Verteuerungsrate in dem stark von Importen abhängigen Land trug demnach alleine die schwache Lira bei. Die Lira – die sich nach der Zinserhöhung erholte – war zwischenzeitlich auf ein Rekordtief von 2,39 gegenüber dem US-Dollar gefallen. Seit Mitte Dezember, als die Erdogan-Regierung wegen anhaltender Korruptionsvorwürfe unter Druck geriet, hatte die türkische Währung damit um mehr als 17 Prozent an Wert verloren.
Wie andere Schwellenländer auch leidet die Türkei unter dem Geldentzug der amerikanischen Notenbank Fed. Anders als etwa in Indien sorgt in der Türkei allerdings ein seit Monaten andauerndes politisches Chaos für zusätzliche Verunsicherung bei Anlegern. Dabei galt die Türkei lange als stabiles Schwellenland, das mit imposanten Wachstumsraten sogar als Vorbild für die Euro-Krisenländer gehandelt wurde. Unter Erdogan machte die Türkei gewaltige Sprünge nach vorne, seit seinem Amtsantritt vor mehr als zehn Jahren hat sich das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen mehr als verdoppelt.
Doch spätestens seit vergangenem Sommer ist das Image angekratzt. Hinter den landesweiten Protesten gegen seine Regierung sah der zunehmend autoritär herrschende Ministerpräsident die Verschwörung einer internationalen „Zinslobby“. Nebulös blieb, wer hinter diesem Komplott stecken sollte – dessen Ziel es nach Erdogans Ansicht war, durch Zinserhöhungen den wirtschaftlichen Aufschwung der Türkei zu sabotieren und letztlich die Regierung zu stürzen. Firmen, die von der Regierung verdächtigt wurden, mit den Demonstranten zu sympathisieren, bekamen Besuch von Steuerprüfern. Am 17. Dezember wurden Korruptionsermittlungen bekannt, die das Land seitdem erschüttern und zum Rücktritt von vier Ministern führten. Erdogan sieht in den Ermittlungen eine Fortsetzung der „Verschwörung“ vom Sommer. Seine Regierung reagierte nicht mit transparenter Aufklärung, sondern ließ Hunderte Polizisten und Staatsanwälte ihrer Posten entheben.
Die EU sieht die Unabhängigkeit der Justiz in dem Beitrittskandidaten Türkei in Gefahr. Erdogans islamisch-konservative Partei AKP steht unter Druck: Ende März sind im ganzen Land Kommunalwahlen. Ein wirtschaftlicher Abschwung könnte die AKP noch mehr Stimmen kosten als die Korruptionsvorwürfe. Mit wüsten Tiraden beschimpft Erdogan seine Gegner oder solche, die er dafür hält. Zuletzt traf seine Wut die Industrie- und Wirtschaftsvereinigung der Türkei (Tüsiad). Der Tüsiad-Vorsitzende Muharrem Yilmaz kritisierte Medienberichten zufolge, ein Land, in dem die Herrschaft des Rechts nicht beachtet werde, Firmen unter Druck gesetzt und Ausschreibungsregeln immer wieder geändert würden, ziehe kein ausländisches Kapital an.