Chinas Regierungschef Li Keqiang gibt sich gelassen. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen spricht er beim Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel vergangene Woche von einer etwas besseren Wirtschaftsentwicklung. Eine Woche später erfährt die Weltöffentlichkeit, worauf Li seine Zuversicht stützt: Chinas Wirtschaft steht im zweiten Quartal mit 7,5 Prozent Wachstum besser als erwartet da. Aber stimmt die Zahl überhaupt? Ökonomen äußern immer lauter Zweifel. „Es wird immer klarer, dass niemand weiß, wie groß Chinas Wirtschaft ist“, warnt die US-Denkfabrik Stratfor.
China gilt als Lokomotive der Weltwirtschaft. Deshalb erhalten die Wachstumszahlen so große Aufmerksamkeit. Der Aufstieg zur Wirtschaftsmacht verlief in den vergangenen Jahren rasant, auch die deutsche Exportwirtschaft profitiert enorm davon. Grund, die statistischen Erhebungen der Volksrepublik mit Vorsicht zu betrachten, gibt es aber reichlich. So lag die Summe der Einzelwerte der Wirtschaftsleistung der Provinzen im vergangenen Jahr um 5,8 Billionen Yuan (rund 690 Milliarden Euro) höher als die Zahl, die die Zentralregierung für das ganze Land berechnet hat.
Scherzhaft sprechen Ökonomen von einer „Phantomprovinz“. Sie entspricht in etwa der Wirtschaftsleistung Indonesiens. Für ihre Beförderung werden Provinzpolitiker zu einem großen Teil daran gemessen, wie ihre Region wirtschaftlich dasteht. Und da können ein paar Prozentpunkte mehr aus Sicht mancher Politiker offensichtlich nicht schaden.
Die Zentralregierung schätzte also vergangenes Jahr die Übertreibung der Provinzpolitiker auf diese beträchtliche Zahl von 5,8 Billionen Yuan. Ob sie in Wahrheit noch höher oder niedriger liegt, weiß niemand. Die gesamte Wirtschaftsleistung Chinas wurde nach Weltbankzahlen mit 9,2 Billionen Dollar, rund 57 Billionen Yuan, also fast das Zehnfache, berechnet.
Die Probleme mit Chinas offiziellen Statistiken gehen aber noch viel weiter, erklärt Ökonom Harry X. Wu. Er hat sich Chinas Wachstumszahlen über 30 Jahre angeschaut und kommt zu einem verheerenden Ergebnis: Für ihn sind Chinas offizielle Zahlen massiv übertrieben. Die Industrieproduktion werde jedes Jahr aufs Neue zu hoch, aber die Inflation viel zu klein gerechnet.
Im Krisenjahr 2008 sei Chinas Wirtschaft beispielsweise nicht – wie offiziell bekannt gegeben – um 9,6 Prozent, sondern um 4,7 Prozent gewachsen, hat Wu ausgerechnet. Und 2012 hätte das Wachstum statt der offiziellen 7,7 Prozent nur bei 4,1 Prozent gelegen. Nach Darstellung des Ökonomen rechnet China besonders die Auswirkungen internationaler Krisen auf seine Wirtschaft künstlich klein.
Selbst Li Keqiang hatte die Zuverlässigkeit von Chinas Wachstumszahlen infrage gestellt, wie Wikileaks zufolge aus US-Dokumenten hervorgeht. Während seiner Zeit als Parteichef der Provinz Liaoning hatte er dem US-Botschafter anvertraut, die Wachstumszahlen seien „von Menschenhand geschaffen“ und nicht verlässlich, ist den Unterlagen zu entnehmen. Die Zahlen könnten allenfalls Tendenzen widerspiegeln.
Er schaue sich lieber den Energieverbrauch, das Frachtaufkommen oder die Kreditvergabe an, sagte Li demnach in dem Hintergrundgespräch vor sieben Jahren. Aber auch diese Hilfsbrücke sei mittlerweile wirkungslos geworden, schätzen Experten. Denn seit die Zentralregierung die Energieeffizienz steigern will, würden auch die Zahlen zum Energieverbrauch geschönt.