Lokführer streiken, Kita-Erzieherinnen streiken. Brief- und Paketzusteller streiken vielleicht bald, ebenso wie angestellte Lehrer. Und noch viele andere Beschäftigte in Deutschland legen in diesen Tagen zeitweise die Arbeit nieder. Sie alle finden, dass sie zu wenig verdienen. Viele, die nicht streiken, finden das auch. „Für die Arbeit, die ich mache, müsste ich eigentlich viel besser bezahlt werden“ – wer hat das nicht schon mal gesagt?
Der Historiker Paul Nolte hat dafür einen Begriff geprägt: die „subjektive Gerechtigkeitslücke“. Bis zu einem gewissen Maß gehört sie wohl einfach zur Natur des Menschen.
Der Kölner Wirtschaftspsychologe Fabian Christandl erläutert: „Wir haben eine angeborene Neigung, uns sozial zu vergleichen. Das große Problem: Wir vergleichen uns überwiegend mit Leuten, die mehr verdienen.“ Oder von denen wir glauben, dass sie mehr verdienen – denn oft ist es ja auch nur eine Vermutung, weil man so genau gar nicht weiß, was beim Kollegen oder Nachbarn auf dem Lohnzettel steht. In Deutschland gibt es kaum ein größeres Tabuthema als die Höhe des Einkommens. Jedenfalls, so Christandl, führt das ständige Vergleichen mit tatsächlich oder vermeintlich Besserverdienenden dazu, „dass wir den Eindruck bekommen, dass wir schlechter dastehen als andere“.
Bedeutet all das nun, dass so gut wie jeder Deutsche unter einem Benachteiligungskomplex leidet? Nein, eindeutig nicht, sagt der Gerechtigkeitsforscher Stefan Liebig von der Universität Bielefeld: „Diese oft gehörte Aussage, alle finden ihr Einkommen ungerecht – die stimmt überhaupt nicht.“
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin erhebt dazu alle zwei Jahre neue Zahlen – und diese besagen: Eine deutliche Mehrheit der Beschäftigten von um die 70 Prozent bewertet ihr Einkommen als gerecht.
Im Osten gibt es dabei mehr Unzufriedene als im Westen. Geringverdiener fühlen sich naheliegenderweise häufiger ungerecht bezahlt als Besserverdienende. Besonders groß ist die subjektiv empfundene Gerechtigkeitslücke im Baugewerbe sowie bei Sozial- und Gesundheitsberufen. Wobei auch die Unzufriedenen keine völlig überzogenen Vorstellungen davon haben, was sie bekommen müssten. „Die Leute, die sich ungerecht entlohnt fühlen, sagen nicht: „Ich möchte 50 Prozent mehr verdienen.“ Sondern es ist eher ein Gefühl: „Mit 200 Euro mehr hätte ich ein gerechtes Einkommen““, sagt Liebig. „Es bewegt sich nur in einem abgesteckten Rahmen, man bleibt in seinem Einkommensbereich.“
Was die Studien ebenfalls zeigen: In Krisenzeiten nimmt das Ungerechtigkeitsempfinden allgemein ab. Wenn's dagegen gut läuft mit der Wirtschaft, so wie derzeit, dann wollen viele auch durch ein Gehaltsplus am Erfolg beteiligt werden.
Liebig ist davon überzeugt, dass das Gerechtigkeitsgefühl der Bundesbürger insgesamt sehr ausbalanciert ist. „Unterschiede sind gewollt“, erklärt er – und verweist dabei auf regelmäßige Umfragen. „Dass der Arzt mehr verdient als ein Müllfahrer, das ist für die allermeisten völlig okay. Was man aber machen möchte, ist, dass man einzelne Berufe im unteren Bereich nach oben setzt und oben etwas abschmilzt.“
Etwas ganz anderes ist es, wenn der Eindruck aufkommt, eine bestimmte Gruppe wolle sich über Gebühr – und damit auch auf Kosten der anderen – bedienen. Liebig: „Als es damals um die hohen Managergehälter ging, da ging es auch immer um die Frage: Versuchen sich hier einige oder einzelne Gruppen, auf Kosten von anderen Vorteile zu verschaffen? Oder jetzt eben die GDL. Dass sich einzelne Gruppen einen größeren Schluck aus der Pulle genehmigen – das wird als ungerecht wahrgenommen.“
Der Ethiker Markus Tiedemann von der Freien Universität Berlin sieht es ähnlich: „Denken Sie an jene Manager, die am Berliner Flughafen ,verbrannt' worden sind, ohne dass deren Einsatz der Gesellschaft irgendetwas gebracht hat. Da fault etwas im System. Und das ist nicht Neid – das ist schlichtweg Ungerechtigkeit im Sinne mangelnder Fairness.“