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BERLIN
Lokführer legen Deutschland lahm
reda
 |  aktualisiert: 26.04.2023 22:36 Uhr

Auf die Kunden der Deutschen Bahn kommt der längste Streik in der Geschichte des Unternehmens zu. Es ist der inzwischen sechste Streik im laufenden Tarifkonflikt und der längste seit Gründung der Deutschen Bahn AG im Jahr 1994: Die Lokführergewerkschaft GDL hat zu einem mehr als viertägigen Streik aufgerufen. Der Ausstand beginnt am Mittwoch im Güterverkehr, von Donnerstag an sind auch Personenzüge betroffen. Ein Einigungsversuch beider Seiten war am Sonntag gescheitert. Mit dem bevorstehenden weiteren Streik lässt die Lokführergewerkschaft GDL den Konflikt nun vollends eskalieren.

Worin besteht der Kern des Konflikts?

Die GDL will ihre Verhandlungsmacht in Tarifrunden ausdehnen. Ihr genügt es nicht mehr, nur für die rund 20 000 Lokführer Tarifregeln auszuhandeln. Sie erhebt Anspruch auf GDL-Tarifverträge auch für etwa 17 000 andere Eisenbahner. Darunter sind außer 8800 Zubegleitern auch Gastronomen in den Speisewagen, Lokrangierführer, Instruktoren, Trainer und sogenannte Zugdisponenten, die Verbindungen planen. Für diese Berufsgruppen hat bisher allein die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) Tarifverträge abgemacht.

Wie begründet die GDL diesen Anspruch?

Die Gewerkschaft beruft sich auf Artikel 9 des Grundgesetzes. Darin ist die Koalitionsfreiheit verankert – also auch das Recht, für alle Berufe Gewerkschaften zu gründen. Die GDL leitet daraus ab, dass sie für all ihre Mitglieder Tarifverträge abschließen darf, Stichwort: Tarifpluralität. „Dieses Grundrecht ist in Gefahr und damit die Funktion von Gewerkschaften an sich“, stellte der GDL-Vorsitzende Claus Weselsky fest.

Was hält die Bahn dem entgegen?

Die Bahn wolle der GDL ihre Rechte nicht nehmen, erwidert der Konzern. Auch stelle niemand ihre Existenz infrage. Anders als von der GDL unterstellt, verbiete das Grundgesetz jedoch keine Spielregeln für Tarifverhandlungen zwischen einzelnen Gewerkschaften. Die Bahn hat von Anfang an klargemacht, dass sie verschiedene oder sich gar widersprechende Tarifverträge für ein und dieselbe Berufsgruppe unbedingt vermeiden will.

Wie soll das konkret gelingen?

Die Bahn plädiert ebenso wie die EVG und auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) für das Mehrheitsprinzip: Es soll jeweils diejenige Gewerkschaft Tarifverträge aushandeln dürfen, die in der betreffenden Berufsgruppe die Mehrheit hat. Das wäre bei den Lokführern wie bisher die GDL, bei allen anderen aber die EVG. Die Berufsgruppe „Zugpersonal“, bei der die GDL eine Mitgliedermehrheit von 51 Prozent reklamiert, gebe es so bei der Bahn überhaupt nicht, betont jedenfalls das Unternehmen. Die GDL wähle einen willkürlichen Zuschnitt aus mehreren Berufsgruppen.

Was steht eigentlich in dem jüngsten Vertragsentwurf?

Die Bahn hatte am Wochenende der GDL einen „Tarifvertrag zur Regelung tariflicher Verfahrensfragen“ vorgeschlagen. Darin wird auf sieben Seiten detailliert festgehalten, wie sich EVG, GDL und Bahn bei Tarifverhandlungen eng abstimmen müssen und was bei Meinungsverschiedenheiten zu tun ist. Der Vertragsentwurf sieht auch ein Verhandlungsmandat der GDL für die Zugbegleiter vor. Der springende Punkt jedoch: Sollten sich beide Gewerkschaften nicht über Tarifregelungen für diese Berufsgruppe verständigen, soll letztlich das Ergebnis der Verhandlungen mit der EVG gelten. Weselsky sprach daher von einer „Scheinzuständigkeit für Zugbegleiter“, die die GDL nicht akzeptieren könne.

Was kostet der bisher längste Lokführerstreik die Wirtschaft?

Die Bahn selbst kostet ein Streiktag mindestens einen einstelligen Millionenbetrag. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) warnte, bei einem ununterbrochenen Ausstand von mehr als drei Tagen seien in der Industrie Produktionsunterbrechungen zu erwarten. Die Schäden könnten dann schnell auf mehr als 100 Millionen Euro pro Tag steigen. Selbst unter günstigen Umständen – etwa einer frühen Streikankündigung – beliefe sich die Summe auf mindestens 50 Millionen Euro.

Wie können sich Bahnkunden über Zugausfälle und Verspätungen informieren?

Zusätzlich zur gebührenpflichtigen Servicenummer 0180-6996633 schaltet die Deutsche Bahn ab Dienstagabend unter der Telefonnummer 08000-996633 eine kostenlose Hotline. Außerdem können sich Bahnreisende im Internet unter www.bahn.de/aktuell informieren. Dort sowie über die App DB Navigator ist der Ersatzfahrplan für Donnerstag, den ersten Streiktag, bereits ab Dienstagabend um 19 Uhr einsehbar. Der Ersatzfahrplan für Freitag soll laut Bahn ab Mittwochabend um 18 Uhr abrufbar sein. Grundsätzlich sollen die Ersatzfahrpläne für die Streiktage anderthalb bis zwei Tage vorher einsehbar sein. mit material von afp

Claus Weselsky

Vorbild: Er traut sich noch allein auf einen Bahnhof. Der Mann, der gerade dabei ist, Tausenden Deutschen das Bahnfahren zu verderben, ist ein Einzelkämpfer mit großem Vorbild: Martin Luther – keinen Geringeren hat sich Claus Weselsky zum Vorbild genommen, den Reformator, der seine Kirchenkritik gegen alle Widerstände durchfocht und so die Reformation auslöste. Weselsky, Chef der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), geht es zwar nur um mehr Geld für rund 20 000 Lokführer und etwas mehr Macht für seine Gewerkschaft. Aber: „Luther hat seine Ziele und Ideale aufrichtig verfochten.“

Macht: So begründet Weselsky die Auswahl seines Vorbilds. „Ich bewundere seine Standhaftigkeit. Er war auch dann noch konsequent in seinem Handeln, als es schwierig für ihn wurde.“ Weselsky, CDU-Mitglied, sauber gestutzter Oberlippenbart, brauner Anzug, rote Krawatte, tritt stets gepflegt auf. Manche beschreiben ihn als kühl. Doch wenn er in Rage gerät, kann der Liebhaber klassischer Musik auch unfein werden. Starke Worte auch im Tarifkonflikt mit der Bahn: „Perfide“ gehe das Unternehmen vor, „Scheinheiligkeit“ ist einer der eher noch freundlichen Vorwürfe.

Ausbildung: Im Tarifkonflikt geht er aufs Ganze, denn er ist sich seiner Macht bewusst. Die Reichsbahn der DDR bildete Weselsky in den 1970ern zum Schlosser aus, dann zum Lokführer. Bis 1992 arbeitete er in dem Beruf, zuletzt als Personaldisponent und Lokleiter. In der GDL stieg er 2007 zum Bundesvorsitzenden auf. Kritiker dort werfen ihm einsame Entscheidungen vor. In gewisser Weise passt das zu einem Lokführer, der allein verantwortlich ist für die Reisenden im Zug. FOTO/Text: dpa

 
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