Vielleicht sollte man der Generalanwältin zugutehalten, dass sie europäisches Recht nicht schafft, sondern nur auslegt. Vielleicht müsste man auch berücksichtigen, dass zwischen einem Rechtsprinzip und der Realität auf einer vielbefahrenen Kreuzung in den Innenstädten ein himmelweiter Unterschied herrscht. Zum Beispiel weil die Zahl derjenigen, die mitten auf einer solchen Kreuzung in vier Metern Höhe leben, erkennbar gering ist. Also hätte man sich auch von einem Gutachten am EuGH gewünscht, dass es beide Dinge praxisnäher zusammenführt – die unbestritten richtige Absicht der EU-Richtlinie zur Luftreinhaltung und die Wirklichkeit auf den Straßen, die es nämlich nicht gibt, weil praktisch jede Situation anders ist. Bebauung, Verkehrsfluss, meteorologische Einflüsse – all das kommt bei der Frage, wie belastet die Atemluft in einer konkreten Straße gemessen wird, zusammen. Da helfen prinzipielle Aussagen wenig bis gar nichts. Der EuGH sollte bei derartigen Fragen darauf achten, dass er mit seinen Urteilen nicht an der Wirklichkeit der Menschen vorbeigeht, weil seine Urteile sonst schnell in den Ruf kommen könnten, eigentlich sinnfrei zu sein.
Es ist richtig, dass die Reinhaltung der Luft aus Gründen des Gesundheitsschutzes das oberste Ziel sein muss. Dazu sollten die Politik und die Verwaltungen geeignete Maßnahmen treffen. Ob das Fahrverbote sind? Welchen Sinn macht es, eine besonders belastete Wohnstraße für Diesel-Fahrzeuge zu sperren und dafür an anderer Stelle die gemessenen Werte in die Höhe schießen zu lassen? Punktuelle Fahrverbote sind ebenso unsinnig wie Messungen an besonders belasteten Stellen. Viel wichtiger sind Luftreinhaltepläne, die eine ganze Region, einen Ballungsraum, eine Kommune einbeziehen. Dass es in dieser Hinsicht an geeigneten Konzepten in vielen Städten und Gemeinden mangelt, kann niemand bestreiten. Dann aber sollten alle, denen es wirklich um die Gesundheit der Bürger geht, ihr Augenmerk darauf richten – anstatt ungeeignete, weil punktuelle Maßnahmen zu erstreiten. Konkrete Schritte sind nur dann zielführend, wenn sie Teil eines übergreifenden Konzeptes sind. Ansonsten täuschen sie einen Aktionismus vor, der keine wirklichen Verbesserungen bringen kann. Man möchte sich wünschen, dass die Richter am EuGH in ihrem Urteil Zusammenhänge herstellen und daraus ihre Entscheidung für den Einzelfall ableiten - nicht umgekehrt.