Augmented Reality“, erweiterte Realität, das beschreibt die Anreicherung der eigenen Wahrnehmung mit zusätzlichen Informationen, zum Beispiel über eine Datenbrille. Diese neue Technologie findet nicht nur in der Computerspiel-Branche Fans, sondern kommt auch in der Industrie zum Einsatz. Die Würzburger Koenig & Bauer AG (KBA) ist da ganz vorne dabei.
Die Datenbrille ist sehr leicht
Sie wiegt nur ein paar Gramm, und wie eine echte Brille sieht sie auch kaum aus. Gläser hat sie nämlich keine, stattdessen einen kleinen Arm, der am rechten Bügel angebracht ist und vor das rechte Auge ragt. Er macht das Geheimnis dieser „Brille“ aus: Er hält dem Träger ein kleines Display vor das Auge, etwa so groß wie eine Fingerkuppe. Dank einer integrierten Kamera und einer Internetverbindung können auch andere sehen, was der Brillenträger sieht – egal, ob sie nur einen Raum oder einen halben Globus entfernt sind.
„Mit der Brille ist es, als ob wir neben dem Techniker stehen und ihm über die Schulter schauen“, erklärt Albrecht Szeitszam, Leiter Service Produktentwicklung und Marketing beim Druckmaschinenhersteller KBA. Nach einer Testphase mit ausgewählten Pilotkunden werden sogenannte „DataGlasses“ dort seit Anfang 2017 genutzt, um die weltweite Fernwartung von Druckmaschinen zu erleichtern. 23 Brillen sind im Moment im Einsatz, der Bedarf wächst, so Szeitszam.
Der Helfer sieht die Welt aus der Perspektive des Hilfesuchenden
Hat ein Kunde ein Problem und wählt sich in das System ein, leuchtet ein Hinweis auf dem Bildschirm von Support-Techniker Gerald Happ auf. Er setzt sein Headset auf und nimmt den „Call“ an. Die Person am anderen Ende der Leitung sieht er nicht, stattdessen sieht er die Welt aus deren Perspektive.
Über ein Chatfenster gibt er Anweisungen, die dem Kunden direkt vor seinem Auge eingeblendet werden. Wenn Happ sieht, was er sehen muss, kann er entweder in das Live-Video Markierungen einfügen oder aber ein Bildschirmfoto aufnehmen. Auf diesem Screenshot markiert Gerald Happ dann, was für den Kunden wichtig ist: Er legt einen roten Pfeil auf den Knopf, den der Kunde vor Ort drücken soll, oder zieht einen Kreis um die Artikelnummer des benötigten Ersatzteils. Den bearbeiteten Screenshot schickt er dem Kunden zurück auf das fingernagelgroße Display vor seinem Auge und der Kunde kann dann entsprechend handeln. Auch Warnhinweise oder ganze Dokumente können auf die Brille geschickt werden, Maschinenbaupläne beispielsweise. Währenddessen steht Happ über sein Headset in ständigem Kontakt mit dem Kundentechniker.
Dienst an 364 Tagen im Jahr
Happ und seine Kollegen arbeiten im Drei-Schicht-System, an 364 Tagen im Jahr. „Wir sind wie die Rettungsstelle im Krankenhaus“, scherzt er. Ein Krankenhaus, das weltweiten Service anbietet. So verfügt das Chatfenster auf Happs Bildschirm auch über eine Übersetzerfunktion. Die meisten Brillen sind in Deutschland und Nordeuropa im Einsatz, aber auch in den USA, Südafrika, Italien und Ghana nutzen schon erste Kunden den neuen Support.
Diese „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist bei Koe-nig & Bauer nicht neu, vor Einführung der „DataGlasses“ fand diese Art der Wartung eben per Telefon statt. Die Vorteile der neuen Technologie liegen für Szeitszam jedoch auf der Hand: „Wir vermeiden so viele Missverständnisse.“ Am Telefon könne man eben nie wissen, ob der Kundentechniker am anderen Ende der Leitung überhaupt vor dem richtigen Schaltschrank stehe. Weil die Brille bequem auf der Nase sitzt, hat er jetzt außerdem beide Hände frei und der Kontakt wird nie unterbrochen, weil etwa das Telefon zur Seite gelegt werden muss. Die Wartungszeit lässt sich so erheblich verkürzen und damit auch die Stillstandszeiten der Maschinen.
An der Hardware hat KBA lange getüftelt. Von einer Brille, die beide Augen bedeckt, werde es vielen Leuten schnell schwindelig. Außerdem habe die Video-Übertragung häufig eine Sekunde Zeitversatz: „Das können wir uns nicht erlauben. In der Zeit kann sich der Techniker schon einen Finger eingeklemmt haben“, so Szeitszam. Stattdessen gibt es die „Augmented Reality“, die erweiterte Realität also nur auf einem Auge.
Mit einem eigens im 3D-Druckverfahren hergestellten Verbindungsstück wird der Kamera-Display-Arm entweder an ein Brillengestell oder direkt an die Bügel eines Headsets angesteckt – bis zu 108 Dezibel können die KBA-Anlagen schließlich laut werden. Als dritte Option kann die „DataGlass“ auch mit Kopfhörern und Helm kombiniert werden, für den Einsatz in Ländern, in denen der Arbeitsschutz das vorschreibt.
Trotz aller Vorteile wird die neue Technologie von KBA-Kunden nur langsam angenommen. „Viele begegnen dem Thema noch mit Respekt“, räumt Szeitszam ein. Erik Hufeld, Marketingleiter beim Würzburger IT-Unternehmen iTiZZiMO, stimmt ihm da zu. „Augmented Reality“ sei häufig noch ein „Zukunftsding“. Der Softwareanbieter entwickelt nicht nur Lösungen zur Fernwartung, sondern erstellt Software-Konzepte für den gesamten Produktions- und Lagerprozess. Potenzial für Datenbrillen sieht er vor allem bei mittelständischen Unternehmen, weil dort die Prozesse und Strukturen weniger komplex seien, als in Großkonzernen. Einzig der finanzielle Aufwand für die Anschaffung des Systems sei für manche kleinere Unternehmen schwer zu stemmen.
Auch KBA hat das erkannt und versucht daher, die Einstiegskosten für den Kunden zunächst möglichst gering zu halten. So wird die „DataGlass“ aus Würzburg „geliehen“ und der Kunde muss nur die Infrastruktur, also ein ausreichend gutes WLAN-Signal im gesamten Einsatzbereich bereitstellen. Die Benutzung der Brille ist außerdem in weiten Teilen selbsterklärend, ein langes Schulungsseminar ist nicht notwendig.
„Häufig arbeitet die jüngere Generation unter den Mitarbeitern mit der Brille, die ohnehin eine gewisse Technikbegeisterung mitbringt“, beobachtet KBA-Projektleiter Fernwartung Gerold Dornbusch. Auch bei Hufelds Kunden ist das ein Trend: „Jüngere Mitarbeiter bedienen die Systeme oft auf intuitiver Basis richtig, denn die Oberflächen sind dieselben, die sie vom PC schon gewöhnt sind.“ Die Akzeptanz der Technologie wird also mit dieser Generation in die Unternehmen hineinwachsen.
Ob durch den Einsatz von Datenbrillen Arbeitsplätze wegfallen werden? Das sieht weder der Brillennutzer KBA, noch der Hersteller iTiZZiMO kommen. „Unser Ziel ist es nicht, Menschen zu ersetzen, sondern sie in ihrer Arbeit mit modernen Technologien zu unterstützen“, stellt Szeitszam klar, und auch Hufeld ist sich sicher: „Der Mensch steht noch immer im Mittelpunkt.“ Die Art der Arbeit jedoch werde sich weiter grundlegend verändern.