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ROM/BRÜSSEL
„Europa ist mir scheißegal“
Italienische Euromünze       -  Eine italienische Euromünze mit einer Abbildung von Leonardo da Vinci.Arno Burgi, dpa
Foto: Foto: | Eine italienische Euromünze mit einer Abbildung von Leonardo da Vinci.Arno Burgi, dpa
Julius Müller-Meiningen
 |  aktualisiert: 02.04.2019 13:18 Uhr

Der italienische Schatzminister Giovanni Tria versuchte noch an einigen Stellschrauben zu drehen, aber vergeblich. Nicht der Verantwortliche für die Finanzen in der italienischen Regierung gibt in Rom den Ton an, sondern die Parteichefs der Regierungsparteien. Bis Dienstagnacht hatte die EU-Kommission dem Bündnis aus Fünf-Sterne-Bewegung und Lega Zeit für Korrekturen gegeben, nachdem sie den Budgetentwurf vor drei Wochen abgelehnt hatte. Die entscheidende Kabinettssitzung am Dienstagabend war bei Redaktionsschluss noch nicht beendet. Doch schon zuvor deutete alles auf Konfrontation hin. Entgegen der Abmachungen mit der Vorgängerregierung plant die Regierung von Giuseppe Conte für 2019 eine Neuverschuldung von 2,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und muss deshalb mit einem EU-Strafverfahren rechnen, das noch im November eingeleitet werden könnte.

Schwere Hypothek

Italien trägt eine Schuldenlast von 2,3 Billionen Euro oder 133 Prozent des BIP. Die zusätzliche Neuverschuldung und mögliche Reaktionen der Finanzmärkte gelten als schwere Hypothek für die gesamte Eurozone, weil Italien als drittgrößte Volkswirtschaft systemrelevanten Charakter hat. Doch Vizeministerpräsident und Sterne-Chef Luigi Di Maio sowie Lega-Präsident und Innenminister Matteo Salvini blieben stur. Einerseits möchten sie mit den Zusatzausgaben die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer blockieren, die steigenden Zinsen für die Staatsschulden müssen bezahlt werden. Vor allem aber wollen die Politiker mit der Neuverschuldung ihre Wahlkampfversprechen wahr machen. Die Fünf-Sterne-Bewegung hat eine Grundsicherung von 780 Euro im Monat für Arbeitslose angekündigt, die Lega die Reduzierung des Renteneintrittsalters sowie Steuersenkungen versprochen. „Me ne frego dell'Europa“ – „Europa ist mir scheißegal“. So lautet seit Monaten das Mantra des rauflustigen Innenministers Salvini, der sich nicht zuletzt wegen seiner gnadenlosen Ausländerpolitik immer mehr als der tonangebende Faktor im Regierungsbündnis erweist. Das Problem ist: Hier sind nicht abgehobene Spinner am Werk. Die Parteichefs und Minister Salvini und Di Maio wissen auch acht Monate nach den Parlamentswahlen einen Großteil der italienischen Wähler hinter sich. Beide Parteien liegen in Umfragen derzeit jeweils bei etwa 30 Prozent der Stimmen.

Salvinis Propaganda wirkt

Die Zustimmung gilt auch ganz konkret für die Haushaltspläne. Einer Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Ipsos zufolge befürworten 59 Prozent der Italiener den Haushaltsentwurf der Regierung. 55 Prozent der Befragten halten die Argumentation Di Maios und Salvinis für richtig, dass die Neuverschuldung notwendig sei, um die Wirtschaft anzukurbeln. Über die finanzpolitischen Folgen, mit denen sich selbst Experten schwertun, ist die öffentliche Meinung in Italien gespalten. „Die Reaktionen der Finanzmärkte werden wie eine ungebührliche Einmischung empfunden“, schreibt Ipsos-Chef Nando Pagnoncelli. Gewiss spielt die politische Propaganda beider Parteien gegen „Europa“ eine Rolle. Salvini etwa lässt kaum eine Gelegenheit aus, um auf die ausgeprägte Vorliebe von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker für alkoholische Getränke hinzuweisen, in der ja tatsächlich symbolischer Gehalt liegt. Doch die Propaganda fällt auf fruchtbaren Boden. Der Beginn der Entfremdung des EU-Gründungsmitglieds Italien begann mit der Wirtschafts- und Finanzkrise und der von Brüssel im Anschluss vorgegebenen Austeritäts-Politik.

Dass diese notwendig geworden war, weil italienische Regierungen in den 1970er und 80er Jahren auf unverantwortliche Weise Schulden machten, fand kaum Beachtung. Obwohl Brüssel seit sechs Jahren Italiens Finanzplanungen wieder großzügig behandelt, wirken die Krisenjahre, aber auch das als gnadenlos empfundene Spardiktat bis heute nach.

EU-Gegner in der Mehrheit

Der zweite wesentliche Faktor bei der Entfremdung war die Flüchtlingspolitik. Während sich Italien als Mittelmeeranrainer gezwungen sah, zwischen 2014 und 2017 mehr als 600 000 Immigranten aufzunehmen, von denen viele nach Norden weiterzogen, bemängelten Politiker aller Couleur in Italien mangelnde Solidarität der EU-Partner.

Eine verabredete Quoten-Regelung wurde nie entsprechend umgesetzt. Dem Eurobarometer zufolge würden bei einem Referendum derzeit nur 44 Prozent der Italiener für einen Verbleib in der EU stimmen, das ist der niedrigste Wert unter allen Mitgliedsländern. Eine Rolle spielt dabei wohl auch das traditionell besonders geringe Vertrauen der Italiener in den eigenen Staat und dessen Institutionen. In diesem Spannungsfeld bedienten Fünf-Sterne-Bewegung und Lega den Ruf nach sozialer Absicherung und strikter Asylpolitik. Der gemeinsame Kitt der eigentlich außerordentlich heterogenen Regierungskoalition ist heute ein Feindbild. Es trägt den Namen Europa.

 
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