
Es ist der Widerspruch zwischen diesen beiden Zahlen, der die Europa-Abgeordneten nicht zur Ruhe kommen lässt: 55 Millionen Menschen in der EU können sich jeden zweiten Tag keine warme Mahlzeit leisten. Aber gleichzeitig werden jedes Jahr 88 Millionen Tonnen an Lebensmitteln in der EU verschwendet – 173 Kilo pro Kopf. Das soll sich nun ändern. Das EU-Parlament forderte am gestrigen Dienstag die Europäische Kommission auf, Spenden zu erleichtern und gleichzeitig der Verschwendung durch Aufklärungskampagnen für den Verbraucher entgegenzutreten. Möglichkeiten dafür gebe es viele.
Appell an Einzelhandel
„Es muss ein Bewusstseinswandel im Umgang mit Lebensmitteln stattfinden“, sagte der Grünen-Parlamentarier Martin Häusling. „Eine Welt mit fast 800 Millionen hungernden Menschen und knappen Ressourcen kann es sich nicht leisten, ein Drittel aller Lebensmittel wegzuwerfen“, meinte der CDU-Europa-Politiker Karl-Heinz Florenz. Denn es gehe nicht nur um Obst, Gemüse, Käse und Wurst, sondern auch um die ökologischen Konsequenzen. Allein in Deutschland benötige man pro Kopf und Jahr die Anbaufläche von der Größe eines Fußballfeldes, um die Lebensmittel herzustellen, die anschließend vernichtet werden.
Außerdem würden je Bundesbürger „Treibhausgasemissionen verursacht, die einem Flug von Frankfurt nach New York und zurück entsprechen“. Das Parlament möchte nun erreichen, dass bis 2030 rund 50 Prozent der heute verschwendeten Lebensmittel entweder eingespart oder besser verteilt werden. Die Unternehmen und Einzelhandelsketten will man motivieren, mehr Nahrungsmittel zu spenden. Dazu sollen „bürokratische Hürden beseitigt werden“, erklärte die CDU-Fachfrau im Straßburger Plenum, Renate Sommer: „Durch die Steuerpflichtigkeit von Lebensmittelspenden und die vorhandene Rechtsunsicherheit im Zusammenhang mit der Spenderhaftung wird die Bereitschaft zum Verschenken deutlich verringert.“
Steuerliche Anreize
Außerdem solle die Mehrwertsteuer für gespendete Lebensmittel ersatzlos entfallen. Gleichzeitig forderten die Abgeordneten ihrem gestrigen Beschluss zufolge, die Hygienevorschriften zu lockern, damit noch brauchbare Produkte weitergegeben werden können.
Aber auch an den Verbraucher will man sich wenden. Eine Umfrage des Statistikamtes der EU (Eurostat) zeigte, wie wenig die Kunden über das Mindesthaltbarkeitsdatum und das „Verfallsdatum“ wissen. Zwar achten sechs von zehn EU-Bürgern auf diese Angabe, aber 53 Prozent konnten nicht genau sagen, was die Formel „Mindestens haltbar bis ...“ bedeutet. Viel zu oft würden Waren, die über der angegebenen Mindesthaltbarkeit liegen, weggeworfen. Dabei, so hieß es im Parlament, besage diese Information lediglich, wie lange bei richtiger Lagerung Eigenschaften wie Farbe, Konsistenz und Geschmack erhalten bleiben.
Kommission muss entscheiden
Ein Überschreiten bedeute nicht, dass das Produkt ungenießbar geworden sei. Allerdings gibt es auch grundsätzliche Kritik an diesen pauschalen Kennzeichnungen. Der CDU-Abgeordnete Florenz: „Warum braucht Salz, das zum Teil Hunderte oder Tausende Jahre alt ist, ein Ablaufdatum?“ Das Parlament kann jedoch derzeit nicht mehr tun, als die Kommission, die ja als einzige EU-Institution das Recht zur Vorlage von Gesetzen hat, aufzufordern, etwas zu tun. Dort hieß es am Dienstag, man werde die Resolution der Volksvertreter genau prüfen und dann entscheiden, in welcher Weise man das Problem angehen könne.