Kaum ist ein Tarifkonflikt gelöst, beginnt ein neuer. Für insgesamt 12,5 Millionen Beschäftigte laufen nach einer Übersicht des gewerkschaftsnahen WSI-Tarifarchivs in diesem Jahr die Lohn- und Gehaltstarifverträge aus. Neben der Tarifrunde für die Metall- und Elektroindustrie kommt jetzt auch die Tarifrunde im Einzelhandel in Fahrt. Mit seinen rund drei Millionen Beschäftigen und etwa 400 000 Betrieben zählt sich der Einzelhandel zu den größten Wirtschaftszweigen in Deutschland. Die Vorzeichen deuten auf lange Verhandlungen hin, die regional in den Tarifbezirken geführt werden.
Ver.di läutete bereits heftig die Alarmglocken. Die Gewerkschaft wirft den Arbeitgebern vor, mit dem Kündigen der Manteltarifverträge einen „Generalangriff“ auf die Interessen der Beschäftigten im Schilde zu führen. „Mit diesem Vorhaben legt die Unternehmerseite die Axt an die Existenzsicherung und wesentlichen Schutzregelungen für die Beschäftigten im Einzelhandel“, erklärte Bundesvorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger im Januar. Sie befürchtet, dass Tarifstandards gesenkt werden sollen. Konzerne könnten versuchen, auf dem Rücken der Beschäftigten den Verdrängungswettbewerb im Handel zu verschärfen.
Der Handelsverband Deutschland (HDE) weist die Vorwürfe zurück. „Wir wollen die Manteltarifverträge modernisieren“, sagt Ulrich Köster, Vorsitzender des Tarifpolitischen HDE-Ausschusses. Das habe man über zehn Jahre mit ver.di versucht, ohne sich wirklich näherzukommen. Im Manteltarifvertrag seien alte Berufsbilder enthalten wie Fahrstuhlführer. Weitere Themen sollen angepackt werden: „Wir wollen flexiblere Arbeitszeitregelungen, zum Beispiel die Möglichkeit, Arbeitszeitkonten einzurichten oder Absprachen in den einzelnen Teams zuzulassen.“
Die Tarifparteien müssen nun erst einmal am Verhandlungstisch Platz nehmen und Forderungen austauschen. Ver.di hat sich deutliche Einkommensverbesserungen auf die Fahnen geschrieben. In einigen Tarifbezirken wie Nordrhein-Westfalen fordert die Gewerkschaft 6,5 Prozent mehr Geld. In anderen Tarifbezirken wie Baden-Württemberg wird ein Euro mehr pro Stunde von den Verhandlungsführern gefordert. HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth kritisierte die Forderungen bereits: „Die Forderungen sind teilweise exorbitant.“ In einem Tarifbezirk gebe es für untere Gehaltsgruppen eine Forderung, die auf ein Plus von bis zu 20 Prozent hinauslaufe.
Beim Thema Mindestlohn kommen die Tarifparteien seit längerem nicht voran. „Wir sollten das Thema als Tarifparteien selbst regeln und nicht auf einen gesetzlichen Mindestlohn warten. Das tarifliche Basisentgelt könnte regional unterschiedlich sein. Damit es von Ministerien für allgemein verbindlich erklärt werden kann, muss eine Tarifbindung von 50 Prozent nachgewiesen werden“, meint Köster. Ver.di hält das für ein Lippenbekenntnis. Die Arbeitgeber hätten längst den Nachweis führen müssen, wie hoch die Tarifbindung ist.
Die Arbeitgeberseite betont, ihr Ziel sei eine Stärkung des Flächentarifvertrages. „Viele Händler haben aus Kostengründen einfache Tätigkeiten wie das Auffüllen von Regalen an Dienstleister ausgelagert. Die Tarifverträge des Einzelhandels müssen so gestaltet sein, dass auch einfache Tätigkeiten wieder zu wirtschaftlichen Konditionen mit eigenen Mitarbeitern durchgeführt werden können, anstatt sie auf externe Dienstleister auszulagern“, betont Köster.
Position der Arbeitgeber
Vor Beginn der Tarifverhandlungen im bayerischen Einzelhandel an diesem Dienstag haben die Arbeitgeber die ver.di-Forderungen als unrealistisch zurückgewiesen. Die Gewerkschaft verlangt 6,5 Prozent mehr Geld für die rund 300 000 Beschäftigten, für die der Tarifvertrag gilt, mindestens aber 140 Euro mehr. Angesichts der Lage in der Branche sei diese Forderung völlig überzogen, hieß es beim Handelsverband Bayern (HBE): „Eine verantwortungsvolle Tarifpolitik sieht anders aus.“ Ob die Arbeitgeber ein Angebot vorlegen, will die Tarifkommission direkt vor Verhandlungsbeginn besprechen. Text: dpa