Die Europäische Zentralbank (EZB) geht aufs Ganze: Mit ihrer historischen Zinssenkung macht sie das Geld im Euroraum billig wie noch nie – zumindest für die Banken. Doch der Paukenschlag aus Frankfurt gilt bei vielen Beobachtern als Schnellschuss, das Rekord-Zinstief ist umstritten und könnte sein Ziel verfehlen. Denn seit Jahren schon erhöhen die Währungshüter kontinuierlich die Dosis, ohne dass die Liquiditätsschwemme dort ankommt, wo sie benötigt wird. Die Gefahr, dass das Billiggeld anderswo Schaden anrichtet, steigt. Seit Mario Draghi am Ruder ist, weht bei der EZB ein anderer Wind. Der Notenbankchef startete gleich mit einer unerwarteten Zinssenkung, nachdem er sein Amt im Herbst 2011 angetreten hatte, und ließ dann direkt noch eine weitere folgen. Er nahm Investoren im Krisensommer 2012 die Angst vor dem Zerfall des Währungsraums, indem er versprach, „alles zu tun, um den Euro zu erhalten“ – koste es, was es wolle. Am Donnerstag war es nun wieder soweit. Nachdem die EZB – zur handfesten Überraschung der Finanzmärkte – den Leitzins auf das Allzeittief von 0,25 Prozent gedrückt hatte, legte Draghi unmittelbar nach: „Wir könnten noch weiter gehen.“ Es stehe nach wie vor ein prall gefüllter geldpolitischer Instrumentenkoffer zur Verfügung. „Draghi spielt ein gefährliches Spiel“, meint Eugen Keller, Analyst beim Bankhaus Metzler – und wirft die Frage auf, ob die Notenbank bereits im „Panikmodus“ agiere.
Der Werkzeugkasten der EZB hält noch einiges parat: Strafzinsen auf gehortete Liquidität von Banken, riesige Kapitalspritzen für den Finanzsektor – vom EZB-Chef „Dicke Bertha“ genannt – oder Anleihekäufe, mit denen verstopfte Kreditkanäle im Stil einer „Bazooka“ aufgesprengt werden sollen, damit das Geld wieder durch die Wirtschaft fließt. Das martialische Vokabular wirkt verstörend, kommt aber nicht von ungefähr. Denn wie schweres Kriegsgerät sind auch die Waffen der Zentralbanker gefährlich. Die Flut des billigen Geldes kann eine Zerstörungskraft entfalten, wenn sie nicht bei den Unternehmen und Haushalten landet, sondern in spekulativen Nischen der Finanzmärkte.
„Angesichts des schon seit längerem sehr niedrigen Zinsniveaus werden die konjunkturellen Effekte der Zinssenkung allenfalls sehr gering ausfallen“, kritisiert Michael Kemmer, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands deutscher Banken. Stattdessen würden die Risiken der Niedrigzinspolitik weiter zunehmen – „insbesondere die Gefahr von falschen Risikoeinschätzungen, verzerrten Investitionsentscheidungen und Vermögenspreisblasen“. Damit offenbart sich das Dilemma, in dem die Währungshüter stecken. Denn Draghi und seine Kollegen hatten ihren Zinsentscheid vor allem mit dem Preisverfall in der Eurozone begründet. Die EZB erwarte „eine anhaltende Phase niedriger Inflation“. Zuletzt hatte die jährliche Teuerungsrate mit 0,7 Prozent deutlich unter dem Zielwert von knapp zwei Prozent gelegen, den die EZB verteidigen will.
Doch um das Preisniveau auf breiter Front zu heben, müsste das Zentralbankgeld in der Bevölkerung ankommen und dort die Nachfrage steigern. Stattdessen nimmt nach Einschätzung vieler Ökonomen die Gefahr zu, dass es Spekulationsblasen an den Finanz- und Immobilienmärkten aufpumpt. Als die großen Notenbanken das letzte Mal den Geldhahn zu lange offenließen, war der Flurschaden enorm: Nach dem Platzen der liquiditätsgetriebenen Blase am US-Häusermarkt stand die globale Finanzwelt 2008 vor dem Kollaps. Die Abwärtsspirale aus maroden Staatsfinanzen, angeschlagenen Banken und schwacher Wirtschaft, die die Zentralbanker bis heute mit billigem Geld bekämpfen, ist nicht zuletzt dem Crash von damals geschuldet.