Was früher undenkbar schien, könnte bald Realität werden: Zehnjährige Staatsanleihen Deutschlands – an Europas Finanzmärkten das Maß aller Dinge – werfen vielleicht schon bald keine Zinsen mehr ab. Ende vergangener Woche fiel ihre Rendite erstmals unter die Marke von 0,1 Prozent. Und es könnte noch heftiger kommen: Unter Fachleuten gilt es als Frage der Zeit, bis der Zins unter die Nullgrenze fällt. Das würde bedeuten: Leiht man dem Staat für zehn Jahre sein Geld, bekommt man nicht nur keine Zinsen – man müsste sogar draufzahlen. Und der Staat würde fürs Schuldenmachen Geld bekommen. Dass Anleger für die Geldanlage zahlen müssen, anstatt Zinsen zu erhalten, klingt nach verkehrter Welt. Aber in einer Zeit, in der Notenbanken ihre Geldpolitik extrem locker halten und die Märkte mit Billiggeld fluten, scheint das die „neue Normalität“ zu sein.
Ganz vorne dabei ist die Europäische Zentralbank (EZB): Seit Anfang März lässt sie ihre neue Geldschwemme über die Finanzwelt schwappen. Mit Anleihekäufen von insgesamt mehr als einer Billion Euro will sie sich gegen einen vermeintlich schädlichen Preisverfall stemmen. Inwieweit das gelingt, ist offen – an den Finanzmärkten sind die Folgen schon jetzt drastisch.
Um das Ausmaß der Entwicklung erfassen zu können, muss man etwas zurückblicken: Vor der Jahrtausendwende konnte ein Anleger darauf zählen, mehr als fünf Prozent Zinsen für zehn Jahre zu bekommen. Vor der Finanzkrise waren es noch vier Prozent. Dann aber ging es steil bergab, wobei sich der Abwärtssog im vergangenen Jahr massiv verstärkt hat. Seither ist der Zehnjahreszins um fast zwei Prozentpunkte gefallen – eine starke Bewegung für den normalerweise eher trägen Anleihemarkt.
Die Folgen des Zinstiefs sind erheblich und vielfältig. Auf der Gewinnerseite steht der deutsche Staat, der sich über die Ausgabe von Bundesanleihen so günstig verschulden kann wie nie zuvor. Das Kieler Forschungsinstitut IfW hat ausgerechnet, dass Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) allein in diesem Jahr auf geringere Zinskosten von 20 Milliarden Euro zählen kann. Bis zum Jahr 2030 veranschlagen die Forscher rechnerische Einsparungen von 160 Milliarden Euro. Die „schwarze Null“ im Bundeshaushalt – ein Vorzeigeprojekt der Großen Koalition – wurde nicht zuletzt durch die Niedrigzinsphase erst möglich. Zu den großen Verlierern der Null-Zins-Politik zählen die deutschen Sparer, die ihr Geldvermögen traditionell in festverzinsliche oder andere sichere Anlagen stecken. Die DZ Bank kommt zu dem Ergebnis, dass den privaten Haushalten in den vergangenen fünf Jahren 190 Milliarden Euro an Zinsen durch die Lappen gegangen sind. Zwar profitieren sie auch über geringere Kreditkosten, weil die Zinsen etwa für den Hauskauf ebenfalls stark gesunken sind. Unter dem Strich bleibt aber ein Verlust.
Vor drastischen Konsequenzen der Nullzinsphase warnen auch namhafte Institutionen wie der Internationale Währungsfonds. Der IWF – grundsätzlich Befürworter einer lockeren Geldpolitik – sieht die Gefahr erheblicher Verwerfungen in der Finanzindustrie. Weil in Europa bereits ein Drittel aller Staatsanleihen negative Zinsen tragen, sieht der Währungsfonds Versicherungsunternehmen und Banken in Bedrängnis. Der Grund: Zinseinnahmen aus Staatsanleihen stellen für Versicherer wie Geldhäuser eine wichtige Einnahmequelle dar, aus denen sie Ausgaben für Versicherte und Bankkunden finanzieren. Fallen die Zinsen, fallen auch die Ertragschancen. Das trifft am Ende auch die Kunden – also neben den Sparbuchbesitzern auch Privatanleger, die Lebensversicherungen oder Rentenfonds als Kissen für die Altersvorsorge gekauft haben. Bankvolkswirte gehen mittlerweile so weit, den einstigen Status von Bundesanleihen als sicheren Anlagehafen infrage zu stellen: „Aus einem risikolosen Zins ist ein zinsloses Risiko geworden“, heißt es bei der Bank M.M. Warburg.
Den wichtigsten Grund dafür nennt Edgar Walk, Chefökonom beim Bankhaus Metzler: „Anleger können so gut wie keine Erträge mehr erwarten und haben jederzeit das Risiko größerer Kursverluste.“ Denn als Folge der massiven EZB-Käufe erklimmen die Anleihekurse einen Rekord nach dem nächsten. Das kann nicht ewig so weitergehen, sagen Experten.
Ob der Ansturm auf Bundesanleihen anhält, ist nicht sicher. Fachleute halten es für möglich, dass die Notenbank Probleme mit ihren Anleihekäufen bekommen könnte. Die Volkswirte der Commerzbank warnen vor einem „Knappheitsproblem“. Ein wichtiger Grund ist jene „schwarze Null“ von Finanzminister Schäuble: Weil sich die Haushaltslage des Bundes bessert, muss er weniger Staatsanleihen ausgeben. Hinzu kommt, dass die Konjunktur im Euroraum nach einer langen Durststrecke anzieht. Normalerweise spricht das für höhere Zinsen und fallende Anleihekurse.
Anleihen
Eine Anleihe ist ein handelbarer Kredit mit festgeschriebener Laufzeit, Verzinsung und Rückzahlung. Der Käufer einer Anleihe gewährt ihrem Herausgeber (Emittent) einen Kredit. Sie wird auch Schuldverschreibung genannt. Die Kurse handelbarer Anleihen werden täglich neu an der Börse bestimmt. Kurs und Rendite einer Anleihe ändern sich täglich mit dem Marktzins. Steigt der Marktzins, sinkt der Kurs. Ein fallender Marktzins lässt den Kurs steigen. Neben den regelmäßigen Zinserträgen bieten Anleihen dem Anleger Chancen auf Kursgewinne, sie bergen aber auch das Risiko von Kursverlusten.
Im Vergleich zu Aktionären sind Inhaber von Anleihen weniger stark im Risiko, da sie durch ihren Kredit keine Miteigentümer werden. Für eher sicherheitsorientierte Anleger hat das den Vorteil, dass sie relativ unabhängig vom Erfolg des Emittenten ihren Kreditbetrag am Ende der Laufzeit in der Regel voll zurückerhalten. Text/FOTO: afk/dpa