Die Boomjahre in Deutschland gehen zu Ende. Die fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, die in diesem Frühjahr noch ein Wachstum von 1,9 Prozent für dieses Jahr und von 2,0 für 2015 vorausgesagt hatten, schraubten in ihrem am Donnerstag in Berlin vorgestellten Herbstgutachten ihre Prognose deutlich an unten. Wegen der angespannten internationalen Lage, der anhaltenden Probleme in der Eurozone und der schwachen Binnennachfrage werde die Wirtschaft in diesem Jahr nur um 1,3 Prozent wachsen, im kommenden Jahr sogar nur um 1,2 Prozent. Als Folge könnte die Zahl der Arbeitslosen im kommenden Jahr um 56 000 steigen.
Gleichzeitig brachen auch die Exporte ein. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gingen die Ausfuhren im August um 5,8 Prozent zurück, das ist der stärkste Rückgang seit der Wirtschaftskrise im Jahr 2009.
In ihrer 83-seitigen Gemeinschaftsdiagnose gaben die Wirtschaftsforscher der Regierung Merkel eine Mitschuld am Abschwung und prangerten den „Gegenwind von der Wirtschaftspolitik“ der Großen Koalition an. „Das Rentenpaket und die Einführung des flächendeckenden Mindestlohns wirken wachstumshemmend“, sagte der Konjunkturchef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Ferdinand Fichtner. Die „Rentengeschenke der Regierung“ hätten eine Senkung des Rentenbeitrags verhindert, der Mindestlohn dürfte zum Verlust von 200 000 Arbeitsplätzen führen.
Gleichzeitig nutze die Koalition ihre finanziellen Spielräume zu wenig für Investitionen. Kritik übten die Gutachter an der Haushaltspolitik von Finanzminister Wolfgang Schäuble. Ein Etat mit einer schwarzen Null sei ein reines „Prestigeprojekt“, das ökonomisch keinen Sinn mache, sagte Fichtner. Angesichts erwarteter Überschüsse in den öffentlichen Haushalten in Höhe von etwa sieben Milliarden Euro in diesem Jahr und drei Milliarden Euro 2015 seien höhere Ausgaben für Investitionen in die Infrastruktur sowie eine Senkung der Steuer- und Abgabenlast möglich. Dazu könnten angesichts der historisch niedrigen Zinssätze sogar in geringem Umfang neue Schulden aufgenommen werden, zumal die Schuldenquote deutlich gesunken sei. Unter anderem forderten die Forscher einen Abbau der kalten Progression. Ein staatliches Konjunkturprogramm lehnten die Ökonomen dagegen ab.
Neben den hausgemachten Problemen verwiesen die Wirtschaftsforscher auf die schwierige internationale Lage. „Die Risiken für die Weltkonjunktur sind erheblich“, sagte Stefan Ederer vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung. So belaste der Konflikt Russlands mit dem Westen die ökonomische Entwicklung, zudem könnten in den Bankbilanzen im Euroraum „noch größere Risiken schlummern“. Zwar setze sich in den USA und in Großbritannien der Aufschwung fort, doch in der Eurozone habe die Erholung noch immer nicht Tritt gefasst. So seien in Frankreich, Italien oder Spanien kaum Fortschritte erkennbar.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kündigte an, Anreize für zusätzliche private Investitionen setzen zu wollen. Das Herbstgutachten habe die Regierung nicht überrascht, sagte sie. So hätten sich die Spitzen von CDU, CSU und SPD bei der Sitzung des Koalitionsausschusses am Dienstag mit der Frage beschäftigt, wie zusätzliche Investitionen etwa im digitalen Bereich oder im Zusammenhang mit der Energiewende möglich gemacht oder wie bürokratische Hemmnisse abgebaut werden könnten. „Diesen Kurs werden wir sehr entschieden jetzt weitergehen.“
Dagegen warf die Opposition der Regierung Untätigkeit vor. Die Große Koalition habe sich „lange auf guten Wirtschaftsdaten ausgeruht“, kritisierte die stellvertretende Fraktionschefin der Grünen, Kerstin Andreae. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sei nun gefordert, den Haushalt 2015 konsequent auf Investitionen zu trimmen.