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Interview
"Romantisierung des bäuerlichen Lebens ist keine gute Antwort"
Der Historiker Ewald Frie kommt von einem münsterländischen Hof mit elf Geschwistern. Er erklärt, warum die protestierenden Bauern mit einem positiven Vorurteil belegt sind.
Stefan Küpper
 |  aktualisiert: 11.03.2024 09:18 Uhr

Sie kommen von einem Hof mit elf Geschwistern, haben diesen aber schon lange verlassen. Die Bauernproteste haben sehr viel Aufmerksamkeit und auch Zustimmung erfahren. Wie erklären Sie sich das, wo der stille Abschied vom bäuerlichen Leben, den Sie beschreiben haben, doch lange vollzogen ist?

Ewald Frie: Um 1900 haben 50 Prozent der Deutschen in der Landwirtschaft ihr Geld verdient, 1950 waren es immerhin noch 25 Prozent. Es gibt also einerseits Erinnerungen vieler Menschen an Landarbeit und gleichzeitig das Bewusstsein, irgendwann da weggegangen zu sein und woanders einen Platz gefunden zu haben. Parallel dazu und irgendwie damit verbunden gibt es den Respekt für Produzenten von Primärgütern. Bergleute zum Beispiel oder eben Landwirte. Dieser Respekt kommt auch daher, dass die wenigsten auf deren Arbeit neidisch sind. Das führt – glaube ich – dazu, dass die Protestierenden mit einem positiven Vorurteil belegt waren und sind. 

Andererseits gab es zum Beispiel den für Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck bedrohlichen Vorfall an der Fähre in Schlüttsiel. Das Verhältnis von Bauern und Staat war – historisch betrachtet – immer schon ambivalent. Haben wir in dieser Perspektive heftige Bauernproteste erlebt?

Frie: Bauernproteste, die sich an den Staat richten und versuchen, mit ihm neue oder veränderte Bedingungen auszuhandeln, hat es seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gegeben. Ein Extremfall war 1928, als Bauern in Schleswig-Holstein Sprengstoffanschläge verübt haben. Mit Landwirtschaftsminister Kiechle von der CSU sind die Bauern in den 1980er Jahren auch nicht sehr freundlich umgegangen. Die Protestformen verändern sich. Ganz außergewöhnlich sind die Bauernproteste der letzten zwei Monate nicht. 

Wie würden Sie, mit Ihrem Hintergrund, das heutige Verhältnis von Staat und Landwirtschaft beschreiben?

Frie: Wenn wir dem Agrarhistoriker Ulrich Kluge folgen, stammten in den 80er-Jahren zwei Drittel der landwirtschaftlichen Wertschöpfung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aus Subventionen. Die Bauern sind finanziell spätestens seit den 1960er Jahren, aber auch schon im Ersten und während des Zweiten Weltkriegs auf den Staat angewiesen. Wenn es um Lebensmittelpreise und Produktionsbedingungen geht, müssen sich bäuerliche Proteste daher an den Staat richten. Gleichzeitig sind die Bauern aber eben immer schon mit dem Staat verbunden. Das macht die Beziehung so schwierig, denn die Bauern haben nicht die Alternative, zu sagen, dann lasst uns doch in Ruhe, dann machen wir es halt allein. Dann wären sie mit dem Weltmarkt konfrontiert und das wäre keine gute Alternative.

Ihre Kindheit im Münsterland hat einerseits auf dem staatsfernen Mikrokosmos Hof stattgefunden. Andererseits sprechen Sie, wenn es um die Ausbildungsmöglichkeiten geht, vom Staat als Freund. Sie haben diese Ambivalenz also selbst gespürt?

Frie: Ja. Die gibt es. In bäuerlichen Betrieben vielleicht noch mehr. Denn es gibt eine lange Reihe von Konflikten mit dem Staat. Und es gibt auf dem Hof die Alltagserfahrung, dass man in einer kleinen Gruppe für sich arbeitet, etwas für sich erzeugt. Im konkreten Fall meiner Familie kommt hinzu, dass der Staat den Geschwistern, die nicht den Hof erbten, Alternativen und Möglichkeiten jenseits der Landwirtschaft geboten hat. Wenn ich in die Generation meiner Eltern schaue, war das kaum nötig, weil deren jüngere Geschwister fast alle noch einen Platz in der Landwirtschaft fanden – weil sie einheirateten. Ab den 60er-Jahren hörte das auf, weil die Zahl der Betriebe rasant zurückging. Wir mussten uns etwas anderes suchen.

Was überdauert vom bäuerlichen Leben, wie Sie und Ihre Geschwister es kennengelernt haben, überhaupt noch?

Frie: Es gibt bäuerliche Betriebe, wenige, aber es gibt sie noch. Und es gibt ein Zusammenwirken, ein sich Austauschen von diesen Primärproduzenten. Was es nicht mehr gibt, ist eine bäuerliche Welt, in der alle, die auf dem Hof leben, mit ihrem ganzen Leben drinstecken. Den bäuerlichen Kosmos, den meine älteren Geschwister erlebt haben, kann man heute nicht mehr gewährleisten. Was also bleibt, ist die Produktion und der Verkauf von Produkten und all das, was mit diesen Produktionsbedingungen verbunden ist. Was verloren gegangen ist und geht, ist die bäuerliche Sozialwelt.

Empfinden Sie dabei Verlust?

Frie: Gesellschaftlicher Wandel ist immer mit Verlust verbunden. Es hat in der Soziologie und den Gesellschaftswissenschaften in den 50er- und 60er-Jahren noch die Idee gegeben, ohne die bäuerliche Welt sei die Gesellschaft gar nicht lebensfähig, weil die bäuerliche Welt das Konstante, das immer Gleiche, das Ruhende repräsentiere, während die Stadt für das Schnelle, das sich Verändernde stehe. Nur in diesem Zusammenspiel, so hieß es, könne Gesellschaft funktionieren. Es gibt ein ähnliches Argument in den 80er- und 90er-Jahren für die Gewerkschaften und die großen Kirchen. Wieder hieß es, ohne diese Form von Zivilgesellschaft, die über Gewerkschaften und Kirchen organisiert wird, könne Gesellschaft nicht überleben. Es sind aber immer neue Formen entstanden, die diese älteren Formen ersetzt haben. 

Also ein Verlust?

Frie: Natürlich war die bäuerliche Welt mit ihrer Teamarbeit und mit ihrer Alltagssolidarität etwas Gutes und Erhaltenswertes. Sie war aber auch – bei uns zumindest – eine Klassengesellschaft, und nach der sehnt sich niemand zurück. Diese Welt hat dem sozialen Wandel nicht standgehalten. Es ist nicht sinnvoll, dem nachzutrauern, sondern zu überlegen, welche sozialen Formen sind an die Stelle getreten, und wie können wir dafür sorgen, dass andere Arten von Gemeinschaftlichkeit aufgebaut werden. 

Fehlen die auf dem Hof erlernten Sozialkompetenzen, die Teamfähigkeit, das Sich-Zurück-Nehmen-Können der Gesellschaft heute? Die viel zitierte „Gesellschaft der Singularitäten“ hat zu ihrem Ausfransen geführt. Die AfD ist erstarkt. Immerhin gibt es nun in allen deutschen Großstädten Massenproteste.

Frie: Romantisierung und Musealisierung des bäuerlichen Lebens sind keine guten Antworten auf die Frage, wie wir gesellschaftlichen Zusammenhalt erreichen können. Wir müssen dann schon die Gegenwart und die Zukunft ernst nehmen und uns überlegen, wie wir gemeinschaftsbildende Potenziale schaffen können. Da erscheinen mir die Demonstration der vergangenen Wochenenden eine Möglichkeit zu sein. Dort entstehen gemeinsame Erinnerungen, ein Wissen um gemeinsame Überzeugungen. Das kann mich im Alltag tragen.

Wo begegnet Ihnen denn in Tübingen, wo Sie leben und lehren, noch bäuerliches Leben? Haben Sie Kontakte zu Landwirten und Landwirtinnen?

Frie: Nein, das habe ich nicht. Aber wenn ich spazieren gehe oder Fahrrad fahre, sehe ich oft von Bäuerinnen und Bauern gestaltete Landschaft. Die ganze Welt um uns herum, jenseits des städtischen oder dörflichen Areals, bleibt bäuerlich gestaltet. Darin liegt eine der großen Herausforderungen: Die Primärproduzenten haben einerseits einen Bevölkerungsanteil von rund zwei Prozent, andererseits sind sie in der von ihnen gestalteten Landschaft sehr weitgehend präsent. Die daraus entstehenden Alltags- und Interessenskonflikte erleben Bäuerinnen und Bauern im Alltag: Missverständnisse und unterschiedliche Interessen müssen besprochen und ausgehandelt werden.

Wäre Ihr Vater auch heute noch gerne Bauer?

Frie: Als mein Bruder übernahm, hat er unseren vielseitigen Hof, der aber einen Schwerpunkt in der Rinderzucht hatte, umgebaut und sich auf Zucht und Mast von Schweinen konzentriert. Das war nicht die bäuerliche Welt, die mein Vater geschätzt hat, lag aber im Zug der landwirtschaftlichen Modernisierung der frühen 70er-Jahre. Mein Vater wäre heute wahrscheinlich schon gerne Bauer. Aber eher im Bereich Rinderzucht. Rinder beanspruchen eine andere Art von Aufmerksamkeit. Sie haben eine andere Art von persönlicher Zurechenbarkeit als Schweine und Hühner. 

Betrachten Sie Ihre Herkunft nach der Arbeit an Ihrem Familienbuch anders?

Frie: Ich habe von meinen ältesten Geschwistern gelernt, dass die Landwirtschaft in den 50er- und den beginnenden 60er-Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts eine zukunftsträchtige und spannende Sache war. Das ist mir selbst in den späten 60er- und in den 70er-Jahren, als ich langsam groß wurde, überhaupt nicht so vorgekommen. Ich habe über meinen Vater gelernt, dass er bei meinen ältesten Geschwistern möglicherweise noch etwas anders Erziehung praktiziert hat als bei den jüngeren Geschwistern. Die Unterschiede der Sozialisation zwischen meinen älteren Geschwistern und mir sind größer, als ich gedacht habe. 

Wenn ich zum Hof, auf dem meine Mutter groß geworden ist, komme und dort die Diele betrete, dann duftet es da für mich nach Kindheit. Das ist quasi mein persönliches Bullerbü – auch wenn meine Mutter als jüngste von sieben Geschwistern den Hof schon vor Jahrzehnten verlassen hat. Wenn sich Ihre Großfamilie am ersten Wochenende nach Weihnachten im Münsterland trifft, was empfinden Sie dann?

Frie: Mein Bruder hat den Hof in den Zweitausendern abgegeben. Es gibt keine Tiere mehr auf der Tenne und keine Silage mehr. Insofern ist der Geruch von damals nicht mehr da. Und wäre er da, wäre er für mich eher zwiespältig. Auf der einen Seite ist es natürlich Heimat. Auf der anderen Seite ist es auch eine Erinnerung an viele Misserfolge und Dinge, die ich nicht so gut konnte. Und da bin ich dann auch froh, dass das vorbei ist. 

Zur Person: Ewald Frie ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen und ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Sein Buch "Ein Hof und elf Geschwister – Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben" (C. H. Beck) wurde mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet. 

 
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