Herr Flege, Sie sind seit 22 Jahren Chef der Allianz pro Schiene und kennen die Bahn so gut wie kaum ein anderer. Wenn Sie auf die Entwicklung des Konzerns blicken: Daumen rauf, Daumen runter – oder keines von beidem?
Dirk Flege: Daumen in der Mitte.
Bevor Sie loslegten, war Johannes Ludewig Bahnchef. Der stellte gleich zu Beginn seiner Amtszeit die sogenannten Pünktlichkeitsanzeigen auf den Bahnsteigen vor. Fragt man die Kundinnen und Kunden heute, müssten diese Anzeigen wohl riesengroß sein. Ist die Unzuverlässigkeit der Bahn zurecht so ein großes Thema oder sind wir Deutschen verwöhnt und stellen uns besonders an?
Flege: Die Bahn war noch nie so unpünktlich wie jetzt. Wenn man nur die Pünktlichkeit nehmen würde, müsste der Daumen nach unten zeigen. Glücklicherweise haben sich andere Dinge zum Besseren verändert. Aber Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit sind auf einem absoluten Tiefstwert angelangt, den wir im nächsten Jahr zumindest in dieser Ausprägung hoffentlich nicht noch einmal erleben werden.
Vor diesem Hintergrund sorgen die Boni für Bahnmanager für großen Unmut in der Bevölkerung. Wie ist Ihre Meinung zu diesem Thema?
Flege: Der Unmut ist auch deswegen so groß, weil man Absprachen in Hinterzimmern vermutet. Man weiß nicht, wofür das Management der Deutschen Bahn prämiert wird, das erfährt man leider erst durch investigative Recherchen von Journalisten. Die mangelnde Transparenz ist eines der zentralen Probleme. Selbst aus der Steuerung der mit unser aller Geld finanzierten DB-Infrastrukturunternehmen macht der Bund eine Geheimsache.
Die Bahn wird als Aktiengesellschaft geführt. Ist das noch zeitgemäß oder wäre eine GmbH besser? Der Bund hätte mehr Zugriffsrechte, das Boni-Thema wäre womöglich keines.
Flege: Die Rechtsform ist nicht das Entscheidende. Selbst wenn der Konzern in eine zu 100 Prozent bundeseigene GmbH umgewandelt würde, zöge das nicht automatisch mehr Durchgriffsrechte nach sich. Wir haben das bei der Autobahn GmbH gesehen, wo der Bundesverkehrsminister sich beim Chefpersonal nicht durchsetzen konnte und eine blutige Nase davontrug. Das zeigt, die Rechtsform ist nicht das Entscheidende.
Sondern?
Flege: Dass der Bund definiert, wo er bahn- und verkehrspolitisch hin will. Das muss sauber und im Konsens mit der Opposition geklärt werden. Die Ampel darf die Bahnpolitik nicht unter sich ausmachen. Es kann nicht sein, dass die Regierung nach jeder Bundestagswahl die Reset-Taste drückt und neu diskutiert. Die Eisenbahn ist nicht parteipolitisch Grün, Schwarz-Rot, Gelb oder sonst irgendwas. Sie kommt der gesamten Volkswirtschaft zugute, und deswegen muss die Opposition bei der Bahnreform 2.0, vor der wir stehen, mit einbezogen werden.
Werner Gatzer ist nicht mehr Finanzstaatssekretär bei Christian Lindner, aber noch Aufsichtsratschef der Bahn. Macht das Sinn?
Flege: In der aktuellen Phase schon. Wenn der Bund weiß, wo er hinwill, muss es eine Person geben, die ganz eng beim Bund angebunden ist. Das ist ein Ex-Staatssekretär naturgemäß nicht. Aber im Moment ist alles im Fluss bei der Deutschen Bahn, und insofern ist das unter Kompetenz-Gesichtspunkten eine ganz pragmatische Übergangslösung.
Gatzer war an den Haushalts-Konstrukten beteiligt, die vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurden. Der Klima- und Transformationsfonds muss kleiner werden, es fehlen Milliarden Euro für den überfälligen Ausbau des Schienennetzes. Eine Infrastruktursparte soll es richten. Es werden Ressorts zusammengelegt, die Bahn behält die Aufsicht. Aus Raider wird also Twix. Was soll das bringen?
Flege: Zwei Gesellschaften einfach nur zusammenzulegen und mit einer neuen Überschrift zu versehen, das bringt das System Schiene noch nicht wirklich voran. Die Satzung dieser neuen Gesellschaft löst das Dilemma nicht auf. Es bleiben Fragen unbeantwortet
Ein Beispiel bitte.
Flege: Wie steht es im Zweifelsfall mit dem Gewinnanspruch, den der Bund als Eigentümer nach wie vor an sein natürliches Monopol Schieneninfrastruktur stellt? Ist der wichtiger oder weniger wichtig als die gewünschte Gemeinwohlorientierung? Dieses Spannungsverhältnis wird in der Satzung der neuen Gesellschaft nicht aufgelöst.
Wie fügt sich das mit der Eigenkapitalerhöhung für die Bahn zusammen? Geplant ist sie, aber sie soll offenbar viel höher ausfallen als ursprünglich vorgesehen.
Flege: Ja, von 12,5 auf 20 Milliarden Euro. Eine zusätzliche Eigenkapitalerhöhung der Deutschen Bahn aus Privatisierungserlösen von Post und Telekom hat im Vergleich zu einer regulären Finanzierung des Schienennetzes über den Bundeshaushalt zwei entscheidende Nachteile: Sie ist nicht so transparent wie ein Baukostenzuschuss. Und sie ist doppelt unsicher – einmal auf dem Zeitstrahl und einmal von der Höhe. Niemand weiß, wann genau die Post- und Telekom-Anteile des Bundes am Kapitalmarkt verkauft werden und wie hoch die Erlöse tatsächlich sein werden. Das heißt, die Regierung trägt maximale Verunsicherung in das extrem wichtige Thema Schienennetzsanierung. Für die geplante Sanierung der Hochleistungskorridore müssen die Aufträge zwei, drei Jahre vorher vergeben werden. Dafür wiederum muss die Finanzierung stehen. Insofern ist das ein unschönes Kompromissergebnis.
Sie haben zur Kompensation den Abbau umweltschädlicher Subventionen vorgeschlagen. Steht die Forderung noch, und was ist damit gemeint?
Flege: Mehr denn je. Gerade weil die Privatisierungserlöse von Post und Telekom unsicher sind, wäre es uns viel lieber, wenn reguläre Haushaltsmittel in die Schieneninfrastruktur fließen. Dafür ließen sich neue Einnahmequellen erschließen, die auch einen Beitrag zur Verkehrswende leisten würden: Die Reform der Dienstwagenbesteuerung und die Abschaffung des Diesel-Privilegs bieten sich hierfür kurzfristig an. Die Abschaffung des Diesel-Privilegs zum Beispiel würde Milliarden an Zusatzeinnahmen bringen.
Wie blicken Sie vor dem Hintergrund der Haushaltsmisere auf das Deutschlandticket? Bleibt es erhalten, und wenn ja, zu welchem Preis?
Flege: Es wird das Deutschlandticket weiterhin geben. Die Politik kann es sich nicht leisten, es wieder einzukassieren. Der Preis wird aller Voraussicht nach steigen. Denn weder bei den Ländern noch beim Bund gibt es im Moment eine nennenswerte Bereitschaft, zusätzliche Milliarden in den Angebotsausbau und die Beibehaltung des bisherigen Preises zu stecken. Gleichzeitig wird das Fahren mit Pkw-Verbrennern durch die Erhöhung der CO2-Abgabe teurer. Ich halte das in der Kombination für sozial problematisch. Man muss den Menschen eine Alternative bieten, gerade im ländlichen Raum. Mobilität sollte ein Grundrecht sein, und dafür steht das 49-Euro-Ticket, idealerweise ergänzt um ein bundesweites Sozialticket: für bezahlbare öffentliche Mobilität.
Die gute Nachricht fürs neue Jahr ist, dass die Deutsche Bahn die Ausschreibung für eine neue Generation von Hochgeschwindigkeitszügen gestartet hat. Anfang der 2030er-Jahre sollen maximal 400 Meter lange Züge mit mindestens 300 Stundenkilometern unterwegs sein. Hört sich gut an, aber wie realistisch ist das?
Flege: Die Züge werden aus Eigenmitteln der Deutschen Bahn finanziert und nicht aus dem Staatshaushalt. Insofern hängt die Antwort auf diese Frage davon ab, wie viel Geld die Bahn verdient. Der Konzern ist auf Wunsch des Eigentümers Bundesrepublik Deutschland dabei, das internationale Geschäft zu reduzieren. Die Logistiktochter DB Schenker wird verkauft, ebenso der Bus- und Bahndienstleister Arriva. Die Bahn konzentriert sich damit wunschgemäß auf das Kerngeschäft in Deutschland und Europa. Die Frage ist, ob sie dann noch so viel Geld verdienen kann, dass sie die notwendige Liquidität für den Kauf dieser Züge hat.