Wenn alles gut geht, wird es am Samstag losgehen: Ein riesiger schwimmender Kran soll mit der Installation des ersten von 64 geplanten Stahlfundamenten in der Nordsee beginnen. 70 Meter lang ist das Teil mit einem Durchmesser von über neun Metern, das 85 Kilometer nordwestlich der Insel Borkum in den Meeresboden der Nordsee gerammt wird. Es wiegt 1350 Tonnen und soll später ein Windrad mit ähnlich gigantischen Ausmaßen tragen. Ende 2025 sollen die Arbeiten am bislang größten deutschen Offshore-Windpark abgeschlossen sein.
"He Dreiht", auf Niederdeutsch "Er dreht", heißt das Großprojekt, das der Energieversorger EnBW als Mehrheitsgesellschafter zusammen mit mehreren Investoren stemmt. Mit den 960 Megawatt (MW) installierter Leistung verdoppelt EnBW seine bisher installierte Offshore-Windkraft-Kapazität. Rechnerisch könnte der Windpark 1,1 Millionen Haushalte versorgen. Tatsächlich hat EnBW aber schon vor Baubeginn 505 MW fest über 15 Jahre an industrielle Abnehmer verkauft. Darunter sind etwa Bosch, die Deutsche Bahn oder die Frankfurter Flughafengesellschaft Fraport.
Die Bundesregierung will extrem ambitioniert ausbauen
Bei einer Pressekonferenz bekräftigte EnBW-Chef Georg Stamatelopoulos am Donnerstag in Karlsruhe, dass das Unternehmen noch weitere Windparks errichten möchte. Zwei Parks betreibt EnBW bereits seit über zehn Jahren in der Ostsee, in der Nordsee kamen 2019 und 2020 zwei weitere hinzu. Fest geplant sind zudem zwei Großprojekte mit je 3000 Megawatt Leistung in schottischen und britischen Gewässern. Ans Netz gehen sollen diese beiden Parks 2030 und 2036.
Der Ausbau der Offshore-Windkraft hat zuletzt wieder deutlich Schwung aufgenommen. Die Bundesregierung hat sich einen auch nach Meinung von Industrievertretern extrem ambitionierten Ausbauplan gegeben. Bis 2030 soll die installierte Leistung auf 30 Gigawatt (GW) ansteigen und sich bis 2045 auf 70 GW noch einmal mehr als verdoppeln. Ende Januar dieses Jahres betrug die installierte Leistung 8,5 GW. Das heißt, rechnerisch müsste alle drei Monate ein Park wie "He Dreiht" gebaut werden, um das Ziel für 2030 zu erreichen, rechnet die EnBW vor.
Bereits jetzt zeichnen sich aber Engpässe in den Lieferketten ab. Peter Heydecker, im EnBW-Vorstand zuständig für Nachhaltige Erzeugungsinfrastruktur, sagt: "Bei Windturbinen ist das Problem ähnlich wie bei Gasturbinen: Es gibt nur wenige Lieferanten mit eingeschränkter Kapazität." Aber auch die Verfügbarkeit der Spezialschiffe und der notwendigen Kabel für die Netzanbindung gefährden das Erreichen der Ziele. Personalmangel verschärft das Problem. Für das aktuelle Projekt sehe man aber keine Engpässe und sei voll im Zeitplan, so EnBW.
Die Flächen werden in Auktionen vergeben
Die Nachfrage nach dem grünen Windstrom ist groß. Industrielle Stromkunden können mit sogenannten Power Purchase Agreements (PPA) wie im Fall von "He Dreiht" schnell und zu fixen Kosten bei der Dekarbonisierung vorankommen. Mögliche Flächen für einen Windpark im Meer ermittelt zunächst das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH). Windparkbetreiber können dann über Auktionen der Bundesnetzagentur für diese Flächen bieten. Bei "He Dreiht" hat EnBW im Jahr 2017 den Zuschlag bekommen mit dem Versprechen, den Park ohne einen Cent öffentlicher Gelder errichten und betreiben zu können.
Inzwischen sind Betreiber sogar bereit, Geld für die Flächen zu bezahlen. So hat die Bundesnetzagentur 2023 in allen Ausschreibungen für Flächen, die vom BSH freigegeben, aber bisher nicht im Detail untersucht worden sind, 12,6 Milliarden Euro erlöst. 90 Prozent dieser Erlöse fließen gebunden in die Senkung der Stromkosten. An dieser Ausgestaltung des Strommarktes gibt es aber auch Kritik. Zum einen verteuert sich der Bau der Windparks, wenn die Betreiber viel Geld für die Flächen bezahlen müssen. Je günstiger der Storm an der Börse ist, desto weniger attraktiv ist es dann für Industriekunden, langfristige Verträge zu relativ hohen Preisen abzuschließen.
Zum anderen profitieren Verbraucherinnen und Verbraucher, aber auch kleinere Unternehmen nicht vom Ausbau der Parks. Diese Strommengen landen nicht an der Börse und wirken dort entsprechend auch nicht preissenkend. Wenn der Strompreis kurzfristig stark schwankt, wie nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, sind zwar Industriekunden mit Direktverträgen gegen Preissteigerungen abgesichert, alle anderen zahlen aber mehr. Mira Wenzel, Projektleiterin Energiewende im Stromsektor bei der Denkfabrik Agora Energiewende, sagt: "Wichtig für den Energiemarkt als Ganzes ist, dass bei den anstehenden Vergabeverfahren unterschiedliche Bieter zum Zug kommen. Auch Stadtwerke und andere kleinere Unternehmen sollten die Chance haben, sich an der Offshore-Windkraft zu beteiligen."
Der Ausbau der Leitungen ist sehr wichtig
EnBW-Vorstandsmitglied Heydecker verteidigt das Modell. Damit sei man flexibler und könne schneller auf den Bedarf des Marktes reagieren. Aber er sieht durchaus Platz für andere Modelle, gerade wenn es um den Ausbau in der Breite und kleinere Projekte geht.
Je mehr Strom auf See erzeugt wird, desto wichtiger wird die Frage des Transports. "Der Netzausbau ist absolut elementar, um den Strom aus dem windreichen Norden in den stromhungrigen Süden zu transportieren. Im vergangenen Jahr konnte fast 20 Prozent des erzeugten Stroms aus Offshore-Windparks in Deutschland nicht ins Netz eingespeist werden. Die Anlagen mussten abgeregelt werden", betont Wenzel. Bei "He Dreiht" übernimmt der deutsch-niederländische Netzbetreiber TenneT die Anbindung ans Stromnetz im Norden. Auch Stamatelopoulos betont die Bedeutung des Netzausbaus: "Wir sind eindeutig für Freilandleitungen und gegen Erdkabel. Aus unserer Sicht sind dadurch Einsparungen von 20 Milliarden Euro möglich. Dieses Geld haben wir als Gesamtgesellschaft nicht übrig."
2,4 Milliarden Euro kostet der EnBW-Windpark insgesamt. Die 15-MW-Anlagen des Herstellers Vestas kommen dabei zum ersten Mal in den kommerziellen Einsatz. Sie haben einen Rotordurchmesser von 236 Metern. Eine Umdrehung der Turbine reicht rechnerisch aus, um vier Haushalte einen Tag mit Strom zu versorgen.