
Es regnet – und wie. Die Tropfen sammeln sich auf dem dichten Blätterdach und platschen als dicke Wasserperlen auf die Erde. Der Pfad, auf den sie fallen, gleicht einem Bachbett. Michael Körner scheint das Wetter kein bisschen zu stören. In seiner roten Regenjacke mit Käppi unter der Kapuze schreitet der fröhliche Mittfünfziger voran. Vor einer besonders großen Pfütze, die sich über die ganze Breite des Weges erstreckt, bleibt er stehen und schaufelt seitlich ein Loch hinein. Dann guckt er dem Wasser beim Abfließen zu. Dabei lächelt er wie ein Kind, das am Wasserspielplatz gerade erfolgreich einen Sandstaudamm durchbrochen hat.
Dass sich die Wasserlache überhaupt bildet, stimmt Körner froh. Denn sie, der bachbettähnliche Pfad und der Regen beweisen, dass er gute Arbeit leistet. Körners Beruf ist die Pflege des Goldsteigs. Ein 660 Kilometer langer Fernwanderweg im Bayerischen Wald. Der Oberpfälzer sorgt dafür, dass sich die Strecke immer im besten Zustand befindet. Das erklärt, warum er Wasser aus Pfützen ablässt. Aber warum stimmen sie ihn froh?
Der Goldsteig ist ein sogenannter Qualitätsweg. Damit er sich so nennen darf, muss er gewisse Kriterien erfüllen. Körner achtet darauf, dass sie eingehalten werden. Wo steht eine Bank, wo ist ein Wegweiser und vor allem: Wie sehen die Pfade aus? Sind sie geschottert oder gar geteert? Das wäre schlecht. Denn je naturbelassener ein Weg ist, desto besser. Dass der Weg sich bei Regen also in ein Bachbett verwandelt und sich darauf knöcheltiefe Pfützen bilden, beweist, dass der Weg das Prädikat zu Recht trägt. Denn auf einer Schotterpiste würde das nicht passieren.
Früher war der Bayerische Wald das Naherholungsgebiet des Münchner Adels. In Kutschen kamen die hohen Herrschaften aus München, um die Luft zu genießen und sich zu entspannen. Doch die Zeit des Adels ging vorbei, und als es auch den Glashütten immer schlechter ging, versank der „Woid“ in einer Art Dornröschenschlaf. Langsam küsst ihn nun der Tourismus wieder wach – auch dank des Goldsteigs, der sich seit zehn Jahren einmal quer durch das Mittelgebirge erstreckt. Los geht es im Norden in Marktredwitz. Schluss ist im Süden in Passau. Michael Körner ist die gesamte Strecke schon einmal abgewandert und sagt: „Jeder Teil hat seinen Reiz. Im Oberpfälzer Wald ist die Landschaft viel sanfter. Bei uns im Bayerischen Wald gibt es Stellen, die sind fast schon alpin.“
Auf einem dieser fast alpinen Pfade trottet nun eine Wandergruppe unter dem plätschernden Regen hinter Körner her – immer bergauf bis zum Kaitersberg und dann zur Kötztinger Hütte hoch über Bad Kötzting. Dieses Stück, so besagt es eine Legende, war einst die Heimat des „Robin Hood des Bayerischen Waldes“ – Räuber Heigl. Er floh Mitte des 19. Jahrhunderts vor einer Verhandlung aus dem Gericht in Straubing und durchstreifte anschließend den Bayerischen Wald auf der Suche nach Diebesgut. Sein bevorzugtes Angriffsziel waren reiche Bauern und Geistliche, was ihm die Sympathie der ärmeren Bevölkerung zutrug. Sein ehemaliges Versteck befindet sich kurz vor der Hütte. So erzählt man es sich zumindest.
Die Räuberhöhle liegt am Fuß einer steilen Felswand. Würde kein Schild am Wegrand auf das Versteck hinweisen, wanderte man wohl einfach vorbei. Durch einen schmalen Spalt gelangt man ins Innere. Wirklich gemütlich sieht der Räuberhort nicht aus. Der Regen hat überall Pfützen entstehen lassen, es tropft von der Decke. Nur ganz hinten, in einer niedrigen Ecke, ist ein trockenes Fleckchen. Es ist düster und mit ein bisschen Fantasie kann man sich vorstellen, wie sich in einem Winkel die Beute stapelt und davor ein Feuer prasselt.
„Heute sucht hier höchstens ein ganz anderer Räuber nach Beute“, sagt Ulrike Eberl-Walter vom Tourismusverband Ostbayern.
Der Räuber, den sie meint, bekommt man als Wanderer höchst selten zu Gesicht. Er ist etwa einen halben Meter groß, hat Pinselohren und ein getupftes, braunrotes Fell. Es ist der Luchs. Seit einiger Zeit ist die Raubkatze in den Bayerischen Wald zurückgekehrt. „Und solche Steilwände lieben die Tiere“, sagt Eberl-Walter. In den 80er Jahren kamen die Katzen aus Tschechien her. Dort waren sie im Böhmerwald wieder angesiedelt worden und breiteten sich aus.
Für Menschen sei die Grenze damals noch unpassierbar gewesen, erzählt Franz Thurner. Er ist ehrenamtlich für den Abschnitt des Goldsteigs verantwortlich, der kurz an der tschechischen Grenze entlangführt. Denn das Nachbarland ist ganz nah. Thurner kennt hier jede Kurve und beinahe jeden Baum. Es geht zum Berg Gibacht, hoch über Furth im Wald. Hinter einer Wegkehre taucht die Grenze auf. Zwischen den Bäumen reihen sich weiße Pfosten mit blauem Band aneinander. Die Buchen links sind tschechisch, die Buchen rechts deutsch. Heute kann man ungestört zwischen den beiden Ländern hin und her wechseln. Zu Zeiten des Kalten Krieges war das anders. Gewandert sei in dem Wald damals keiner, sagt Thurner.
Es wäre auch nicht besonders schön gewesen, denn der Rauch aus tschechischen Kohlekraftwerken habe den Bäumen zugesetzt, erzählt der ältere Herr. Heute freut er sich, wenn er sieht, wie die Fichten sprießen. Gerade die habe es damals nicht mehr gegeben. Manchmal hätten Menschen versucht, durch den Wald nach Deutschland zu fliehen. Geschafft habe es fast keiner. „Die Tschechen hatten ein gut funktionierendes Überwachungssystem. Es hat schon Kilometer vor der Grenze Alarm geschlagen.
Wenn sie dann bemerkt haben, dass jemand die Grenze überquert, haben sie ihn erst einmal laufen lassen. Hier haben sie auf ihn gewartet, ihn abgepasst und mit zurückgenommen“, erzählt er. Heute zwitschern Vögel in den Baumkronen und die Sonne taucht den Wald in sanftes Grün. Alles ist friedlich und ruhig.
Ganz anders in Furth im Wald. Da zischt und faucht es. Es grunzt und quiekt. Raucht und qualmt. Zumindest, wenn man sich in die Further Drachenhöhle wagt. Ein etwas poetischer Name für ein Museum, das von außen einer Lagerhalle gleicht – innen aber eine Besonderheit beherbergt. Den Further Drachen. Er ist elf Tonnen schwer, 15,5 Meter lang und kann sich – ferngesteuert von vier Männern – bewegen, als wäre er echt. Er kann seine Lefzen zu einem Lächeln hochziehen und das Maul mit den spitzen Zähnen weit aufreißen. Seine Pupillen können sich weiten, seine Flügel sich aufstellen, sein Schwanz gefährlich durch die Luft peitschen. Er kann Feuer spucken, brüllen und Rauch durch seine Nüstern ausstoßen.
Einmal im Jahr holen Stefan Ege und seine drei Kollegen das grün-graue Ungetüm für seinen großen Auftritt aus der Höhle. Dann feiert die kleine Stadt Furth den Drachenstich. Tausende Besucher kommen, um zuzugucken, wie der riesige Schreitdrache – der übrigens eine Drachendame ist und Fanni heißt – gegen Ritter Udo kämpft.
Das Schauspiel hat eine lange Tradition. Schon Mitte des 15. Jahrhunderts soll es die ersten Prozessionen mit Drachen gegeben haben, damals noch an Fronleichnam. Der Drache war dabei, weil sich die Further den Schutz des heiligen Georg erbitten wollten, der ja einen Drachen getötet haben soll. Das Spektakel wuchs. Immer mehr Menschen kamen. Die Kirche fand das damals nicht sehr amüsant und wollte den Umzug untersagen. Da verlegten die Further den Drachenstich in den Sommer. Irgendwann entwickelte sich aus der Prozession ein Schauspiel. Eine Geschichte, in der es um Gut und Böse geht.
Wenn nicht gerade Festspielzeit ist, schlummert Fanni in ihrer Höhle. An manchen Tagen wecken Ege und seine Kollegen sie auf und zeigen Besuchern vor der Drachenhöhle, was ihr ferngesteuerter Riese alles kann. Und so belebt nicht nur der Goldsteig den Tourismus im Bayerischen Wald, sondern auch Sagenwesen die Fantasie des Wanderers.