Ein lichter Kiefernhain, durch den der Himmel blau und das Meer dunkel schimmert. Am Boden wachsen Dünengras, Brombeerranken und Farne. Gemulchte Wege oder auch solche mit Holzbohlen führen wenige Meter weit durch die bewachsene Düne, dann ist der Strand da. Der Strand der Prorer Wiek. Er gilt als der schönste auf Rügen. Mit pudrigem Sand, hell und breit. Und so sanft und allmählich ins Meer abfallend, dass Kinder hier wie in einem Planschbecken in der Ostsee spielen können. Wem es hier nicht gefällt, dem ist nicht zu helfen, könnte man meinen. Vielleicht kann er sich aber auch einfach nicht anfreunden mit diesem Ort. Mit seiner Vergangenheit.
„Diesen Platz liebt man. Oder man hasst ihn. Dazwischen gibt es nichts“, sagt Ulrich Busch. Der 52-Jährige ist der Mann, der die Auferstehung von Prora angestoßen hat. Vom einstigen Nazi-Seebad zum Nobeldomizil der Gegenwart. Von der früheren DDR-Kaserne zum Ferien-Highlight dieser Tage. Von der denkmalgeschützten Fast-Ruine zur wärmeisolierten Teuer-Immobilie.
Wer, bitte, hätte noch vor 15 Jahren ernsthaft daran geglaubt, dass aus den monströsen und düsteren fünf Gebäudekomplexen am Ostseerand, aus dem betonierten Vermächtnis zweier Diktaturen, etwas anderes werden würde als immer weiter gehender Verfall?
Es ist seine Geschichte, die diesen Ort besonders macht. Anders. Er kann sie nicht abschütteln, spätestens seit 1994 – seit die knapp fünf Kilometer lange und leicht geschwungene Gebäudelinie unter Denkmalschutz steht.
In den Jahren von 1936 bis 1939 entstand hier das „Seebad der 20 000“. Angeblich hatte Adolf Hitler selbst die Idee dafür, dagewesen ist er nie. Wohl aber sein Handlanger Robert Ley. Der Chef der nationalsozialistischen Organisation „Kraft durch Freude“ sollte dafür sorgen, dass die Volksgemeinschaft sich nicht nur mit KdF-Kreuzfahrten erholen konnte. Sie sollte auch baden gehen – und alles immer schön unter politischer Beeinflussung. Dafür also das Seebad in Prora, ein Monsterprojekt. Täglich sollten – so die Planung – 2000 bis 3000 Urlauber anreisen. In kleine Zimmer zwar, dafür aber alle mit Blick zum Meer. Dazu eine beeindruckende, 2000 Quadratmeter große Empfangshalle.
Zwei Seebrücken in die Ostsee. Eine repräsentative Promenade. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs war der Rohbau weitgehend fertig: acht Bettenhäuser, jedes 500 Meter lang, darin offene Liegehallen, damit man die gute Seeluft auch bei schlechtem Wetter atmen konnte. Angereist ist nie jemand: Mit Kriegsbeginn wurde der unvollendete Bau eingestellt. Im Krieg zeit- und teilweise als Lazarett genutzt. Danach als Obdach für Flüchtlinge. Und schließlich, zu DDR-Zeiten, als Kaserne im Sperrgebiet. Alle Ausbauten fanden erst da statt – vom Einbau von Fenstern bis zum Putz.
Von den acht Bettenhäusern blieben fünf. Eingezäunte Ruinen stehen bis heute. Nach der Wiedervereinigung übernahm die Bundeswehr das Gelände, gab es 1992 auf. 1994 wurden die NS-Bauten, dann schon die Hinterlassenschaft zweier Diktaturen, unter Denkmalschutz gestellt. Das Bundesvermögensamt – heute die Bima – begann seine Suche nach Investoren. Und wer auch immer geglaubt hatte, niemand würde Hand an die düstere Kulisse legen, hatte sich getäuscht. Die – dank bester Strandlage – Traumimmobilie wurde ein Investorenprojekt. Jetzt entstehen hinter den alten Mauern Eigentumswohnungen und Ferienapartments. Zu Quadratmeterpreisen von inzwischen bis zu 10 000 Euro im Penthouse.
Eine der größten baulichen Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus verschwindet in einer stylischen Kulisse. Nicht gut findet das Jens Seidler vom Dokumentationszentrum Prora, das im mittleren Block des einstigen KdF-Seebads untergebracht ist, dem die Umwandlung noch bevorsteht. Auch hier soll aber, so viel ist klar, nichts so bleiben, wie es war und jetzt noch ist. Strahlendes Weiß ist geplant, Balkone aus Glas, dem Dokumentationszentrum wurde gekündigt – schon zum zweiten Mal. Seidler ist Historiker und findet, dass hier „aus denkmalpflegerischer Sicht ein Zustand erreicht ist, der nicht wünschenswert ist“. Mit Unterschriftenlisten wollten er und seine Mitstreiter für den Erhalt historisch-monströser Bausubstanz erreichen, dass wenigstens der letzte, noch nicht an Investoren verkaufte Block fünf so bleibt, wie er ist – nur mit einer Jugendherberge in seinem sanierten Teil. Doch der Eigentümer, der Landkreis Vorpommern-Rügen, will nicht. Erst vor kurzem hat sich der Kreistag entschieden, auch Block fünf zu verkaufen – gegen die Stimmen der Grünen, der Linken und 15 000 Unterzeichner einer Online-Petition. Dem Landkreis fehlt das Geld, das Gebäude zu erhalten und es einer Nutzung im öffentlichen Interesse zuzuführen. „Das hier ist kein Täterort“, sagt Jens Seidler. „Der Täterorte hat sich der Staat angenommen.“
Auch Ulrich Busch hat schon ein Gebot abgegeben für Block fünf und ein Konzept für die weitere Nutzung vorgelegt. Ob er den Zuschlag erhält, ist offen. Busch ist regelmäßig vor Ort, jede Woche. Er hat sich 2004 reingekniet in das Projekt Prora. Die Entkernung ausgehandelt, damit es moderne Wohnungszuschnitte geben kann. Und Indoor-Pools. Und Fitnessräume. Er hat erreicht, dass der Denkmalschutz Balkone an der Seeseite der Gebäude zuließ. Und damit den Grundstein gelegt für die neue Ferienzukunft des Kdf-Seebads. 2006 schlug er dann zu, kaufte mit einem Partner Block eins und zwei. „Hier passiert Großes“, sagt er selbstbewusst und, ja, eindeutig stolz. Der Sohn von Ernst Busch, der zu Nazizeiten wegen seiner politischen Gesinnung inhaftiert und zu DDR-Zeiten Sänger und Schauspieler war, will auch dem großen Namen seines Vaters gerecht werden. Etwas Besonderes erreichen.
Das hat er in Prora geschafft, wo sich Kräne drehen, wo Hunderte Bauarbeiter am Werk sind und wo jeden Tag neue Interessenten in die Verkaufs-Container marschieren, um sich zu Niedrigzins-Zeiten über Steuersparmöglichkeiten zu informieren. In den beiden Komplexen steckt längst das Geld anderer Investoren. Das Geschäft brummt. 700 Wohnungen allein in Block eins und Block zwei – und fast alle verkauft.
„Mehrere Tausend Menschen“ sollen hier Urlaub machen, sagt der Kurdirektor von Binz, Kai Gardeja, zu dem Prora gehört. Bisher hat Binz mit rund 5200 Einwohnern etwas mehr als 15 000 Gästebetten. Jetzt, schätzt Gardeja, dass allein in Prora mindestens nochmal so viele entstehen. Monströse Entwicklungen passen an diesen Ort. Was dann auch kommen soll: Strandreinigung, Rettungstürme, Müllentsorgung – und Kurtaxe. Ulrich Busch denkt auch schon weiter. An ein Bähnchen, das zwischen Binz und Prora shuttelt, an Schranken, die das Gelände absperren und an einen Zaun auf der Düne. Damit nicht mehr jeder, der staunend auf die leuchtendweißen neuen Kolosse schauen will und auf die Pools, die im Dünengras liegen, einfach so aufs Gelände stolpern kann.
Er kann ja ein Ferienapartment buchen – wenn er denn will. Über den Ferienhausvermieter Novasol werden derzeit 73 Apartments mit Platz für bis zu acht Personen vermietet, 15 weitere sollen nach der endgültigen Fertigstellung der Anlage dazukommen. Denn noch wird im Umfeld gebaut. Bei Novasol heißt es, man sei zufrieden, die Buchungslage übertreffe die Erwartungen. Und es heißt auch, man begrüße es, dass „dieses über viele Jahre ungenutzte und dem Verfall preisgegebene Architekturdenkmal sich nun mit positiver Energie und Lebensfreude füllt“. Keine Frage: Die Lage ist traumhaft, die beste Grundlage für gute Urlaubslaune.
Dennoch: Noch wollen die Kämpfer für einen Verbleib von wenigstens Block fünf in der öffentlichen Hand nicht aufgeben. André Brie, Landtagsabgeordneter der Linken, forderte das medienwirksam im Vorfeld der morgigen Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern. Und Jens Seidler vom Dokumentationszentrum wünscht sich natürlich auch, dass noch alles ganz anders wird. Eine Ostsee-Universität könnte er sich da vorstellen, zusammen mit den Anrainerstaaten.
Auch Ulrich Busch hat natürlich Vorstellungen – „große“, selbstverständlich. Für die Menschen, die diesen Platz nicht hassen, sondern lieben wollen.