Wer in das Boot von Eckehard Rutnik steigt, muss derbe Späße abkönnen. Druckreif sind sie jedenfalls längst nicht alle, die Witzchen, die der 68-Jährige im ostpreußischen Singsang den „Kerlchen“ und „Marjellchen“ erzählt, die er die Krutynia (Krutinna) entlangschippert. „Eckehardchen“ stakt die Boote mit kräftigen Schüben durch den masurischen Birken- und Erlenwald. Viele Kanufahrer paddeln uns entgegen. Die 98 Kilometer lange Krutynia ist bei Wassersportlern ein beliebtes Ausflugsziel.
Rutnik ist gebürtiger Ostpreuße; er verkörpert die Geschichte dieses Landstrichs. Als er 1944 zur Welt kommt, ist Masuren noch deutsch. Weil die Vertreibung nach dem Krieg zumindest in den Dörfern haltmacht, bleibt die Familie – als Teil einer im sozialistischen Polen wenig gelittenen Minderheit. So ergreifen auch Rutniks Verwandte in den 70er und 80er Jahren die Chance, bei politischem Tauwetter nach Westdeutschland auszusiedeln. Er aber ist als Deutsch-Dolmetscher in der Spanplattenfabrik, die für den Westen produziert, gefragt. „Also bin ich geblieben.“ Mit der Wende wird das Staken sein Haupterwerb.
Die deutsch-polnische Geschichte begegnet Masuren-Urlaubern vielerorts. Einerseits ein Segen für den Fremdenverkehr, sagt Robert Kempa, oberster Touristiker im Kreis Gizycko (Lötzen), einem Zentrum im Masurischen Landschaftspark. In den Jahren nach der Wende kamen aus Deutschland die sogenannten Heimwehtouristen, jene meist älteren Semester, die entweder selbst noch in Ostpreußen geboren waren oder aber das Land der 1000 Seen und der dunklen Wälder aus den Erzählungen ihrer Verwandten kannten. „Diese Leute waren und sind uns sehr willkommen“, sagt Kempa. Andererseits sei die Befürchtung groß gewesen, dass mit dem Sterben der Kriegsgeneration auch das Interesse der Deutschen an der Gegend abflauen könnte. Mittlerweile aber, freut sich Kempa, finden immer mehr junge Deutsche Gefallen an Masuren. Sie lockt eine Bilderbuchlandschaft mit jeder Menge Freizeitmöglichkeiten für Aktivurlauber. Segeln, Paddeln, Radfahren, Wandern, Reiten, Baden, da ist für die ganze Familie was dabei.
Hügelige Wiesen und Felder, durch die im Sommer Störche staksen, Linden- und Eichenalleen, weite Birken- und Kiefernwälder sowie ungezählte Seen: 3000 bis 4000 solcher Wasserflächen sollen es sein. Genau gezählt hat sie keiner. Wer mag, relaxt einsam im Ferienhaus direkt am Wasser, Ruderboot inklusive. Mehr Komfort bietet etwa das Schlosshotel Karnity (Karnitten), nicht weit von Olsztyn (Allenstein), der Bezirkshauptstadt, idyllisch gelegen an einem ebenfalls namenlosen See. Das ehemalige Gut in Backstein-Gotik wirbt mit Abenteuerspielplatz, Piratenschiff und viel Platz zum gemeinsamen Feiern, aber gleich daneben auch mit kurzen (Wasser-)Wegen in die Einsamkeit . . .
Mehr touristische Infrastruktur findet sich im Hauptgebiet der großen masurischen Seen um Gizycko und Mikolajki (Nikolaiken). Das Gefühl von nicht enden wollender Weite bleibt trotzdem. Auf einem Gebiet von 70 Kilometer Länge und 20 Kilometer Breite tummeln sich im Sommer Tausende Segelboote – und ein paar einzelne mit Motor. Nur sieht man sie nie auf einmal: Ein ausgeklügeltes Kanalsystem verbindet die verwinkelten Seen und verteilt die Wassersportler. Ungezählt sind die Anlegestellen – vom privaten Campingplatz mit zehn Hütten bis zur mondänen Marina. Während Mikolajki mit 3000-Betten-Hotel und Disco-Kneipen-Meile manchen Naturfreak schon an den Ballermann erinnert, lassen sich wenige Kilometer weiter in der Bucht bei Piaski (Piastan) am Kiefernstrand das Wolkenspiel am Himmel und der spätsommerliche Sonnenuntergang in aller Beschaulichkeit erleben.
Der weite Weg aus Deutschland lohnt auch deshalb, weil sich das touristische Angebot in Masuren den Charme des noch nicht ganz Perfekten bewahrt hat – und das hoffentlich noch eine Weile tut. Improvisieren ist angesagt, wenn etwa der Radweg durch die Dörfer plötzlich abbricht, weil irgendwo ein Schild fehlt. Aber um die Ecke steht bestimmt ein Einheimischer, der weiterhilft, notfalls mit Händen und Füßen. Polen ist auch deshalb attraktiv für Familien, weil Unterkünfte, aber auch die tägliche Verpflegung, deutlich günstiger zu haben sind als daheim. Bis zu 20 Prozent macht das aus, in der ganzen Breite vom Vier-Sterne-Hotel bis zum zünftigen Dorfgasthaus.
Und letztlich ist es eben doch auch die Begegnung mit deutsch-polnischer Geschichte, die Urlaub in Masuren reizvoll macht. Galkowo (Galkowen) ist ein kleiner Weiler bei Krutyn. Hier lebt Renate Marsch-Potocka. Die heute 77-Jährige kam erstmals in den 60er Jahren für die Deutsche Presseagentur als Korrespondentin nach Polen. Sie hat das graue Polen des Kriegsrechts in den 80ern erlebt, aber auch den Fall des Eisernen Vorhangs, als ihre Freunde aus der Opposition die demokratische Macht übernahmen.
Man kann Marsch-Potocka stundenlang zuhören, nicht nur ihr berufliches Leben steht für die deutsch-polnische Geschichte. Sie hat in eine polnische Adelsfamilie eingeheiratet, unterstützt heute ihren Sohn, der in Galkowo in drei alten masurischen Bauernhäusern 17 Fremdenzimmer und eine Wohnung vermietet. In einem bei Sztynort (Steinort) abgetragenen und hier wieder aufgebauten 150 Jahre alten Bauernhaus haben sie ein rustikales Wirtshaus eingerichtet. Mit einer Ausstellung im Obergeschoss hält Marsch-Potocka die Erinnerung an ihre Freundin Marion Gräfin Dönhoff (1909 – 2002) wach. Die in Ostpreußen groß gewordene frühere Herausgeberin der Wochenzeitung „Die Zeit“ hatte sich wie keine andere für die deutsch-polnische Versöhnung eingesetzt.
Das Lernen aus der oft so blutigen Vergangenheit ist auch ein Anliegen von Renate Marsch-Potocka. Aber das allein reicht ihr nicht: „Die Deutschen sollen nach Masuren kommen, die Geschichte nicht vergessen, aber vor allem sollen sie sich in der Gegenwart amüsieren, junge Polen treffen und diese einzigartige Landschaft genießen.“
Tipps zum Trip
Information: Polnisches Fremdenverkehrsamt, Kurfürstendamm 71, 10709 Berlin; Tel. (0 30) 21 00 92-0, Fax: (0 30) 21 00 92-14; Internet: www.polen.travel; E-Mail: info.de@polen.travel
Masuren-Infos und Gruppenreisen: Beta Touristik, Tel. (0 30) 65 07 57 92; Internet: www.masurenreisen.com
Anreise: Autobahn über Berlin, Frankfurt/Oder, Poznan (Posen) und Torun (Thorn); rund 1100 Kilometer ab Würzburg/Schweinfurt. Alternativ: Flug nach Gdansk (Danzig) oder Warsaw (Warschau) – und von dort per Leihwagen nach Masuren.
Übernachten: Stranda Gizycko: Appartements für vier Personen im Skandinavien-Stil am See, 75 Euro pro Nacht; Info: www.stranda.pl Landhaus Galkowo: Doppelzimmer ab 35 Euro die Nacht; Info: www.galkowo.pl
Schlosshotel Karnity: Ferienwohnung ab 50 Euro die Nacht; Doppelzimmer 60 Euro; Info: www.karnity.pl Individuelle Radreisen mit Übernachtung im Radler-Ressort Piaski: Ab 400 Euro pro Person und Woche (inklusive Radverleih, Flughafen-Shuttle; Info: www.dnv-tours.de
Segelboote oder Hausboote chartern: Infos: www.gizycko.turystyka.pl www.welcome2poland.com
Swieta Lipka (Heiligenlinde): Barocke Wallfahrtskirche. Beim Orgelkonzert (jede Stunde) bewegen sich Altarfiguren.
Gdansk/Danzig: Unbedingtes Muss, auch wenn die Stadt 230 Kilometer von den Seen entfernt liegt. Herausragend die Innenstadt mit den bunten Renaissancegiebeln. Von Walesa bis Westerplatte: viele Orte, die an die deutsche und polnische Geschichte erinnern.