Wo schlägt das Herz Israels? In der quirligen Mittelmeer-Metropole Tel Aviv? Im historischen Jerusalem, in dem Juden, Christen und Muslime ihre heiligen Stätten haben? Oder etwa doch hier, in der kargen Landschaft am See Genezareth, wo zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, noch vor Zweitem Weltkrieg und Holocaust, junge Einwanderer, jüdisch und sozialistisch gesinnt, damit begannen, Land urban zu machen und im Kibbuz eine neue Form von Gemeinschaft zu leben?
Langsam versinkt die Sonne hinter den Hügeln am Westufer des Sees, orangerot glitzern ihre letzten Strahlen im leicht gekräuselten Wasser. Eine Stimmung, die zum Nachdenken anregt. Von den ungelösten politischen Konflikten ist hier, im Osten Israels, im Moment nichts zu spüren. Viele Geschichten des Neuen Testaments spielen in dieser Gegend: die Bergpredigt, der Apostel Petrus war ursprünglich Fischer an diesem überraschend großen See, der 200 Meter unter dem Meeresspiegel liegt.
Wir sind im Kibbuz En Gev. Ursprünglich gehörte in diesen Siedlungen alles allen, jeder erhielt den gleichen Lohn. Es war der Versuch, ein Ideal zu verwirklichen. Doch so wären die Gemeinschaften, in denen meist mehrere hundert Menschen leben und die sich wirtschaftlich selbst tragen müssen, heute nicht mehr überlebenfähig. Führungskräfte verdienen jetzt mehr als der Durchschnitt, und man akzeptiert auch, dass Menschen hier zur Miete wohnen. Aber der Geist der Pionierzeit lebt noch.
Eine starke Gemeinschaft
Yoel Ben Josef (67) ist als Kind deutscher Einwanderer in diesem Kibbuz am Ostufer des See Genezareth auf die Welt gekommen. Viele Jahre arbeitete er als Fischer, heute fährt er Touristen in einem Bähnlein durch die Siedlung. Sehenswürdigkeiten sind die Bananenplantagen, die 300 Milchkühe in offenen Ställen, der Hafen mit dem Fischlokal, das kleine Museum und der Wachturm mitten auf dem Spielplatz. Früher verbrachten die Kinder 20 Stunden am Tag im Kinderhaus, erzählt Josef. Abends waren sie kurz bei den Eltern, dann ging es zum Schlafen zurück in die Gemeinschaftsräume. Das ist heute anders. Und auch die Erwachsenen sitzen meist nur noch zum Mittagessen zusammen. „Wir hatten früher mehr Gemeinschaft, das fand ich besser“, sagt der alte Fischer, „dafür ist das Leben heute komfortabler.“
Bereits in den 60er Jahren hat der Kibbuz En Gev damit begonnen, sich mit dem Tourismus ein weiteres Standbein zu schaffen. Heute stehen neben betagten Unterkünften moderne und geräumige Bungalows mit Seeblick. Um die Sicherheit müsse man sich keine Sorgen machen, betont Marketingdirektor Arnon Biran. Früher wurde der Kibbuz von den Golan-Höhen aus beschossen, die unmittelbar hinter der Siedlung steil aufragen. „Seit 1967 ist es ruhig“, versichert er. Denn seit dem Sechs-Tage-Krieg ist das eigentlich syrische Gebiet unter israelischer Kontrolle. „Manchmal fahre ich mit dem Mountainbike hoch“, erzählt der sportliche Manager, „das ist ganz schön anstrengend.“
Die Sonne knallt gnadenlos auf das kahle Bergland, an den Hängen ist kein Baum zu sehen, der Schatten spenden könnte. Nur wenige Kilometer vom See entfernt liegt der Kibbuz Beit Zera, der in den 20er Jahren von deutschen Siedlern gegründet wurde. Die 68-jährige Bracha Bento kümmert sich um das Archiv und betreut Besucher. Ihre Eltern waren aus Osteuropa gekommen. „Ich habe hier schon alle denkbaren Jobs gemacht“, erzählt sie. Der Anbau von Avocados und Grapefruits gehört zu den Aktivitäten, ebenso eine Fabrik, in der Plastikteile für die Automobilindustrie gefertigt werden, und natürlich der Kindergarten und die Schule.
Die Fabrik befindet sich inzwischen in privater Hand, viele Bewohner arbeiten aber weiter dort. Mit den Jahren hat sich ein bescheidener Wohlstand eingestellt. „Die ersten privaten Toiletten und Duschen wurden 1952 gebaut“, sagt Bento – drei Jahrzehnte lang hatte es solchen Luxus nicht gegeben.
Aus dem See Genezareth fließt der Jordan – bis er, gut 100 Kilometer weiter südlich, im Toten Meer verschwindet. Der Fluss mit dem weltbekannten Namen ist kein mächtiger Strom. Das mag einst anders gewesen sein, als Johannes der Täufer dort Bußpredigten hielt und die Bekehrten taufte. Heute verlässt jedenfalls ein wenig imposanter Fluss den See. Parallel zu ihm verläuft die Landstraße 90. Richtung Süden beginnen die politischen Verhältnisse schwierig zu werden.
Auf dem östlichen Ufer befindet sich Jordanien. Im Westen, hinter den Hügeln, das palästinensische Westjordanland – samt den umstrittenen israelischen Siedlungen. Den Grenzstreifen selbst, in dem auch die Straße verläuft, beansprucht Israel aus Sicherheitsgründen für sich. Hohe Zäune ziehen sich durchs Niemandsland. Sie sollen das Eindringen von Terroristen verhindern.
Vorbei an der heute palästinensischen Stadt Jericho geht es weiter nach Süden. Dann prägen Sand und Steine die Landschaft, wir sind in der Judäischen Wüste. Die Straße windet sich hinunter zum Toten Meer, dem tiefsten Ort auf dem Globus: 422 Meter unter dem Meeresspiegel. Doch selbst dort gibt es einiges Leben.
Die Oase En Gedi überrascht mit einer Vielfalt tropischer Pflanzen. Ein Naturpark wurde ausgewiesen, in dem die Besucher durch ein steiniges Tal zu „Davids Wasserfall“ hinaufsteigen können. An den Hängen sieht man Höhlen. In einer soll, laut Altem Testament, David den schlafenden König Saul gefunden und ein Stück von dessen Mantel abgeschnitten haben (um zu zeigen, dass er ihn verschont hat). Eine Herde Nubischer Steinböcke trabt vorbei, um die steilen Hänge hochzuklettern. Drollige Klippschliefer, so groß wie Murmeltiere, sitzen auf den Felsen. Um den Wasserfall wächst üppiges Grün als sei hier Regenwald – ein verborgenes Paradies mitten in der Wüste.
Am Ufer des unter sinkendem Wasserspiegel leidenden Toten Meeres geht es weiter nach Süden. Der Jordan bringt nicht mehr genug Nachschub, seit oberhalb auf beiden Seiten des Flusses intensiv bewässert wird. Rechter Hand wird auf dem Hochplateau eines Tafelberges Masada sichtbar. Jene legendäre Festung, in der im ersten Jahrhundert die letzten Kämpfer des jüdischen Aufstands von den Römern belagert wurden. Die Juden handelten heroisch: Sie zogen den Freitod der Knechtschaft vor.
Die 300 Höhenmeter zu den zum Weltkulturerbe erhobenen Ruinen überwindet eine Seilbahn. Da der Startpunkt auf minus 257 Metern liegt, stehen Besucher oben gerade einmal 33 Meter über dem Meeresspiegel. Wanderer können auch den „Schlangenweg“, der in Serpentinen nach oben führt, nehmen. Die Festung, ursprünglich ein Palast des Königs Herodes, liegt strategisch günstig: Von hier oben lässt sich das umgebende Land kontrollieren.
Im südlichen Bereich des 90 Kilometer langen, abflusslosen Toten Meeres tauchen die Hotelburgen von En Bokek auf. Dort steigen bevorzugt Badegäste ab, die in dem extrem salzhaltigen Wasser Linderung für alle möglichen Leiden suchen. Die Gelegenheit, im Toten Meer zu baden, sollten sich auch Gesunde nicht entgehen lassen. Ein einmaliges Erlebnis. Der Auftrieb ist so stark, dass man tatsächlich bewegungslos im Wasser liegen kann, ganz ohne unterzugehen. Wer wieder ans Ufer will, strandet allerdings beinahe wie ein verirrter Wal...
Ausflug in die menschenleere Wüste
Doch am Toten Meer ist noch nicht Schluss. Die Landstraße 90 führt weiter ins rund 200 Kilometer entfernte Eilat am Roten Meer. Wir aber steigen in den uralten offenen Landrover von Ali und verlassen die Straße. Kurz hinter den Hotels beginnt die Wüste Negev. Ali ist israelischer Araber aus dem nahen Wüstenort Arad. Er hat als Kind noch das Wanderleben der Beduinen mitgemacht und weiß viel über die Natur.
Über Akazien, unter denen sich „zwei Handvoll“ Wasser finden lassen, über unscheinbares Gestrüpp, das mal heilend wirkt, mal durch Reibung entflammt werden kann. Die Fahrt durch den engen Canyon des Wadi Sedom verlangt den Stoßdämpfern alles ab. Der fröhliche Ali ruft: „Jalla, jalla!“ (los, los!) und testet, wann das Fahrzeug nach vorne, hinten und zur Seite kippen muss. Tut es aber nicht. Die Gesetze der Physik scheinen aufgehoben. Dann geht die Sonne unter, diesmal hinter Felsenbergen. Weit und breit kein Mensch, nur Wüste. Wieder so eine Stimmung zum Nachdenken.
Tipps zum Trip
Anreise: Tel Aviv ist rund vier Flugstunden von Deutschland entfernt und wird zum Beispiel von München und Frankfurt aus angeflogen – etwa El Al und Lufthansa. Sicherheit: Das Auswärtige Amt rät in seinen Sicherheitshinweisen, das unmittelbare Grenzgebiet zu Syrien und dem Libanon zu meiden und keine Fahrten entlang der israelisch-ägyptischen Grenze zu unternehmen. In Jerusalem wird zu besonderer Vorsicht in der Altstadt (Tempelberg) geraten. Es sollten keine öffentlichen Verkehrsmittel wie Straßenbahnen und Busse benutzt werden. Vor Reisen in den Gazastreifen wird dringend gewarnt. Klima: Als beste Reisezeiten gelten Herbst und Frühjahr. Auch der Winter ist mild. Website des israelischen Tourismusministeriums: www.goisrael.de
Einreise: Ein gültiger Reisepass ist nötig. Reisende erhalten an den Flughäfen eine Einreisekarte, die bis zur Ausreise aufbewahrt werden muss. AZ