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Am Pier der gebrochenen Herzen
Erinnerung an die Titanic: Das irische Hafenstädtchen Cobh war die letzte Station des Unglücksschiffs vor der Überfahrt nach New York – und hält die Jahrhunderttragödie lebendig.
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Von unserem Mitarbeiter Thomas Starost
 |  aktualisiert: 26.04.2023 17:53 Uhr

Für den ehemaligen Lehrer Michael Martin in Cobh ist die Tragödie der Titanic zum Lebensinhalt geworden. Egal ob irischer Dauerregen, eisige Sturmböen oder Sonnenschein unter stahlblauem Himmel: Schlag elf Uhr morgens lädt Michael vor dem Commodore Hotel die Touristen auf seinen Spaziergang zu historischen Titanic-Stätten ein. Siebenmal die Woche, das ganze Jahr über. Kostenpunkt: neun Euro fünfzig – dafür gibt's beim täglichen Gang durch das irische Hafenstädtchen ein frisch gezapftes Guinness in Jack Doyles legendärem Sport-Pub, einen Kaffee im Souvenir-Shop und natürlich konzentrierte Titanic-Information. Hoch dosiert, aber gut bekömmlich.

Das irische Hafenstädtchen Cobh, das damals Queenstown hieß, war vor 100 Jahren die letzte Station der „Titanic“ vor ihrer fatalen Atlantiküberquerung. Am 14. April 1912 versank der Luxusliner im Nordatlantik. Heute lebt die Schiffslegende in den Pubs, Restaurants und Hotels fort – und nicht wenige Einwohner leben von ihr.

Ob Schulkinder, japanische Nikon-Touristen oder wissbegierige Australier: Sie alle lassen sich von den Erzählungen Michael Martins ebenso in den Bann schlagen wie die Einheimischen selbst, die vorbeigehen: Immer wieder bleibt einer stehen, den Geschichten aus lange vergangenen Zeiten lauschend oder sich dem Grüppchen gleich ganz anschließend. Nostalgisch geht es zu im Angesicht der Gebäude, die im Stil des Jahres 1912 erhalten oder restauriert worden sind. Vor dieser Kulisse erwachen Michaels melancholische Titanic-Geschichten zum Leben. Schon nach wenigen Minuten reist die Fantasie so zurück ins Katastrophenjahr – zu jenem verhängnisvollen Abend, an dem der letzte Abschnitt der Titanic-Reise begann.

In Jack Doyles rauchigem Pub hängen heute silbrige Pokale der lokalen Rugby-Mannschaft an der Wand und in der Ecke plärrt ein ganz und gar neuzeitliches Fernsehgerät. Der abgegriffene Holztresen aber, auf dem schon zur Mittagszeit Bierlachen schwimmen, wurde wieder genau so hergestellt wie er 1912 war; damals, in jener Nacht während der Jungfernfahrt im April 1912, als bis ein Uhr morgens Guinness und Whiskey für die gutgelaunt feiernden Passagiere flossen.

Zu den Gästen an diesem Abend gehörte auch Paddy O' Sullivan – ein irischer Fiedler, der in bierseliger Laune seine einzige Geige beim Glücksspiel einsetzte. Alles oder nichts. Eine irische Lebenseinstellung für ein Schiffsticket in der dritten Klasse. Paddy konnte seine Geige behalten. Das Instrument fand sich am Morgen nach der Tragödie im eisigen Wasser wieder, von Paddy aber fehlte jede Spur. Eine Gedenktafel erinnert heute an ihn als eines der 1503 Opfer des Untergangs der Titanic.

Diese Geschichte hat Michael bei einer seiner Touren auch Filmregisseur James Cameron erzählt, der sie als Inspiration für seinen Film nahm. Und so baut die Leinwand-Fiktion um Kate Winslet und Leonardo di Caprio auf einer wahren Begebenheit auf.

Ein anderer irischer Musiker hatte mehr Glück: Eugene Daly machte bei jener Abschiedsfete im Pub mit seinen Flöten ebenso Stimmung wie später beim Auslaufen an Bord der Titanic. Seine Instrumente gingen mit dem Schiff unter, Eugene überlebte.

In Cobh zieht die Karawane weiter. Im Hafen sind noch die historischen Gebäude der White-Star-Line zu besichtigen, in denen die Passagiere im Jahr 1912 ihre Tickets für die Überfahrt in die Neue Welt kaufen konnten. Heute ist hier das Titanic-Queenstown-Restaurant untergebracht. In der Gaststätte wurde bis ins letzte Detail das A-Klasse-Restaurant der Titanic nachgebaut. Die Kellner servieren in historischen Uniformen, die Preise sind gepfeffert, der Kaffee schmeckt fad. Die Atmosphäre wirkt unwirklich und irgendwie deprimierend.

Die irische Wirtschaftskrise hat hier ihre Spuren hinterlassen, Titanic-Mythos hin oder her. Es fehle an Geld, klagt Pächter Liam O' Connor. Die Seidentapeten an den Wänden haben schon bessere Zeiten gesehen. Die Goldleuchter auf den Tischen sind verstaubt, aus den Fenstern fällt der Blick auf die traurigen Überreste von Scotts Pier, von den Einheimischen auch Heartbreak-Pier genannt – Pier der gebrochenen Herzen. Hier gingen die letzten 123 Passagiere der Titanic vor ihrer Überfahrt nach New York an Bord. Nur 44 von ihnen überlebten.

Mittlerweile hat der Zahn der Zeit an dem hölzernen Steg kräftig genagt. In diesem Jubiläumsjahr soll er restauriert werden – der Erinnerung und vor allem der Touristen wegen. Der irische Staat braucht jeden Cent, um durch die Rezession zu kommen. Der Pier und seine Geschichte können da ein wichtiger Anziehungspunkt sein.

Nicht nur die Katastrophe der Titanic lebt in den Gebäuden von Cobh und seinen Menschen weiter. Zwei Jahre nach dem Desaster ereilte die nächste Schiffstragödie die irische Hafenstadt: Am 5. Mai 1915 verließ die Lusitania zum letzten Mal den Hafen Cobh. Nur zehn Meilen entfernt wurde das Passagierschiff von einem deutschen Torpedo versenkt und riss 1200 Menschen mit in den Tod. Auch diese Tragödie kennt Michael Martin bis ins letzte Detail. Darüber zu schreiben, wäre eine neue Geschichte.

Tipps zum Trip

Information: Irland Information Tourism Ireland, Untermainanlage 7, 60329 Frankfurt; Tel. (069) 92 31 850. Irland im Web: www.irland-urlaub.de Titanic im Web: www.titanic.ie Anreise: Die irische Fluggesellschaft Aer Lingus fliegt täglich von mehreren deutschen Städten über Dublin nach Cork. Von dort fährt man circa 15 Kilometer in südöstliche Richtung mit dem Leihwagen nach Cobh. Titanic Trail: Die Tour startet täglich um 9 Uhr morgens und um 14 Uhr vor dem „Commodore Hotel“. Kosten am Morgen 9,50 Euro, mittags 12,50 Euro (Kinder bis 12 Jahre zahlen die Hälfte). Tipp: Auf keinen Fall sollte man sich einen Besuch im „Queenstown Heritage Center“ entgehen lassen. Die historische Ausstellung ist eine Attraktion. Man kann die Atlantiküberquerungen der Auswanderer nachempfinden. Außerdem gibt es viele zusätzliche Details über die Katastrophen der „Titanic“ und der „Lusitania“.

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