Regen. Natürlich Regen. Die Bezeichnung Regenwald kommt ja nicht von ungefähr. Wobei der Regen wie Regenstaub wirkt, feiner noch als Niesel, als seien die Tropfen durch ein unsichtbares Sieb gepresst worden. Das Dach des Waldes ist dicht, weit mehr als 50 Meter hoch. Jede Pflanze kämpft um Licht und Wasser. Jeder Regentropfen trifft unzählige Male auf Bäume, Blätter, Äste, Tiere, wird kleiner, verstäubt sich, ehe er unten angelangt, fein, weich und sich über Kopf und Körper legt wie ein Film. Das Licht wirft Schatten und dominiert das Leben der Pflanzen. Und unter den Tieren gilt: Groß frisst Klein. Wer Charles Darwins Evolutionstheorie bislang nicht verstanden oder angezweifelt hat, wird im Amazonas-Gebiet eines Besseren belehrt.
Durch diesen Dschungel schippert die „MS Hanseatic“, weiß, groß, stolz und doch so winzig auf dem riesigen Amazonas, um den sich der größte Regenwald der Erde gruppiert. Der Amazonas ist auch der größte Fluss der Welt, ein Strom, der 20 Prozent allen Süßwassers mit sich führt, der mit seinen Quellflüssen 7250 Kilometer lang ist und über eine Mündung von 80 Kilometern Breite verfügt. Eine Amazonas-Rekordliste könnte man beinahe beliebig verlängern.
Etwa mit 105 Metern Tiefe, bei Hochwasser schon auch mal 120 Meter: „Das ist tiefer als unsere Nordsee“, betont Kapitän Carsten Gerke bei seiner Durchsage, als die Stelle bei Furo dos Botos passiert wird. Doch was sind schon Fakten und Zahlen, wenn man in diesem Amazonas auch selbst Sensationelles erleben kann!
Es geht zum Schwimmen. Das Thermometer zeigt um die 30 Grad, das Wasser ist handwarm, bräunlich und weich als sei es ein Darjeeling-Tee, First Flush. Der weiße Sand am Flussstrand lädt ein wie in der Karibik. Wenn da nicht ein klitzekleines Problemchen wäre, das aus der Familie der Sägesalmler kommt. Etwa 15 bis 20 Zentimeter große räuberische Schwarmfische mit sehr scharfen Zähnen. Ihr Name: Piranhas.
Schwimmen mit Piranhas also! Wie soll das denn gehen? Sie sind zu Millionen in den Amazonas-Gewässern zu Hause, in all den 1100 Nebenflüssen, von denen 20 länger sind als der Rhein, und natürlich auch im Hauptstrom und so manchem seeähnlichen Nebenarm. „Wenn man nicht irgendwo am Körper blutet, lassen einen die Piranhas in Ruhe“, sagt Moacir, genannt Mo, am Amazonas aufgewachsen und einer der begleitenden Lektoren der „Hanseatic“-Cruise.
„Die Gruselgeschichten, dass man in Piranha-Gewässern nicht mal ungeschoren einen Finger ins Wasser halten kann, sind Blödsinn!“ Wieso könnten sonst die Kinder der Flussanwohner überall mit viel Spaß und Geschrei im braunen Amazonas baden?
Trotzdem: Jeder tastet sich vorsichtig in das warme Wasser, als sei es 15 Grad kalt – langsam, Zentimeter für Zentimeter, mit mulmigem Gefühl. Dann krault der Erste der Gruppe schnell ein paar Meter, der Zweite folgt, Schwimmnudeln fliegen vom Boot. Piranhas? Angst? Ach was! Es ist Party mit Piranhas! Das Badevergnügen dauert 20 Minuten, ohne dass es auch nur zu einer Berührung mit diesen Sägesalmlern gekommen wäre.
Anderntags wird klar, dass auch im Fall Mensch und Piranha Darwin gilt: Groß frisst Klein! Mit einfacher Angelschnur, Haken und kleinen Fleischködern holen Passagiere einen Piranha nach dem anderen aus dem Wasser. Die Kerle reagieren auf das rohe Fleisch wie Vampire auf Blut und beißen kräftig in den verborgenen Angelhaken. Mo nimmt einen von der Angel und zeigt die messerscharfen kleinen Zähne. Großzügig schenken die Großen den Kleinen aber das Leben, denn Mo weiß auch: Piranhas schmecken nicht.
Sie sind zu grätig und zu zäh. Wie schön, dass es im Amazonas-Gebiet aber noch 2499 weitere Fischarten gibt und Hoteldirektorin Doris Adler an Bord mit einer Überraschung aufwartet.
Im Gebiet von Tres Bocas, der drei Flussmündungen, wo der Amazonas 27 Kilometer breit ist und wo rund 400 Flussinseln liegen, wird mittags groß aufgetischt. Es gibt Pira (Fisch) rucú (rot). Der Pirarucú ist einer der größten Süßwasserfische der Erde, bis zu drei Meter lang und 200 Kilogramm schwer. Die Köche haben ihre liebe Mühe, den Kerl aufs Bridge Deck zu bekommen, wo er vor aller Augen filetiert wird. Der Pirarucú mutet an wie ein Urzeitgeschöpf und schmeckt wie Wels.
Der Amazonas ernährt aber nicht nur die Menschen, die an seinen Ufern wohnen und beglückt nicht nur die seltenen Kreuzfahrer, der Fluss heilt auch: Mo doziert im Regenwald wie von einer Apotheke, aus der man sich gegen jedes denkbare Zipperlein bedienen kann. Er zeigt bunte Vögel, winzige Frösche, scheue Affen oder schlafende Faultiere, welche die Kreuzfahrer ohne Hinweis einfach übersehen hätten. Aber mal eine Anakonda aus ihrem Versteck holen, das macht Mo nicht: „Der Amazonas ist kein Zoo, wo man Nahaufnahmen machen kann.
Wir sehen die Tiere, wie sie wirklich leben. Wir füttern nicht an und locken kein Tier aus seinem Versteck.“
Obgleich die Szenerie häufig ähnlich ist, gibt es jeden Tag neue Stimmungen zu erleben: andere Wolkenbilder, Flussfarben, eine Vegetation mit gefühlt tausend Grüntönen. Und ein Stück Menschheitsgeschichte: Tauschhandel ohne Sprache. In Panelas haben etwa ein Dutzend schmale Boote am Heck der „Hanseatic“ festgemacht. Und bald wechselt ein Strunk Bananen gegen einen im Dschungel sehr kostbaren Eimer den Besitzer. Ein noch lebendes Huhn bringt den Gegenwert von zwei Kissen und einem Kanister.
Auch Doris Adler ist zum Tauschen gekommen: Alte T-Shirts bringen ihr Kunsthandwerk und handgemachten Schmuck. Aber die mehrheitlich philippinische Besatzung verschenkt vom Unterdeck aus auch vieles: Brötchen vom Vortag, Kekse und alte Zeitschriften – sehr begehrt bei den jungen Mädchen in den Booten. Sofort schauen sie nicht nur die Modebilder an, sondern suchen auch nach Geruchsproben der Parfüm-Werbekunden. Jeder darf dann ein wenig schnuppern.
Diese Kreuzfahrt ist nicht nur lustig, sondern auch noch luxuriös und lang dazu. Genau 172 Stunden braucht die „Hanseatic“ für die 4175 Kilometer auf dem Amazonas. Das weltweit einzige Expeditionsschiff, das mit fünf Sternen ausgezeichnet ist, bietet allen Komfort in einer immer noch großflächig unerschlossenen Region, in der die meisten Siedlungen nur auf Wasserstraßen und in seltenen Fällen auch aus der Luft erreicht werden können. Mehr als 90 Prozent aller Nahrungsmittel an Bord kommen aus dem Heimathafen Hamburg. Die Bordsprache ist Deutsch. Der Bordpianist heißt tatsächlich Uwe Künstler, nur die Hostess hat weder das Aufgabengebiet noch den Charme der allseits bekannten „Traumschiff“-Beatrice.
In den 16 Tagen an Bord geht es zu indigenen Stämmen wie den Bora oder Huitoto und ins berühmte Opernhaus von Manaus. Mit der Boi-Bumba-Show erleben die Kreuzfahrer Brasiliens zweitgrößtes Fest nach dem Karneval. Bei der Nachtexkursion hält man schon mal einen kleinen Kaiman in den Händen, den einer der Guides flugs aus dem Fluss ins Zodiac geholt hat. Und im Drei-Länder-Eck des Amazonas kommt es zu der kuriosen Konstellation, in Kolumbien auf Reede zu liegen, in Peru anzulanden und einen Spaziergang nach Brasilien zu machen.
Kurz vor dem Ende der Tour geht?s noch durch die Breves-Kanäle, in denen es für die 123 Meter lange und 20 Meter breite „Hanseatic“ ganz schön eng wird – obwohl es sich um ein riesiges Gebiet handelt. Allein die größte Flussinsel der Erde, die Ilha do Marajó, hat die Fläche der halben Schweiz. Und wenn einmal im Jahr die „Hanseatic“ kommt, sind alle auf den Beinen in diesem dicht besiedelten Gebiet. Jeder will den weißen Riesen sehen. Jungs fahren mit ihren Booten abenteuerlich nah ran an den großen Pott. Und dort dreht sich nun das Bild: Die Kreuzfahrer staunen, weil jetzt sie es sind, die mit Hunderten von Handys am Ufer fotografiert werden. Und das bei strahlendem Sonnenschein: Denn Sonne gibt?s auch reichlich im Regenwald.