Der Präsident musste sich gedulden, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Joachim Gauck, dessen fünfjährige Amtszeit als Staatsoberhaupt in einem Monat endet, stand im Plenarsaal des Berliner Reichstagsgebäudes vor der Bank der SPD-Fraktion, um seinem eben gewählten Nachfolger Frank-Walter Steinmeier persönlich zu gratulieren. Doch bevor er seine Glückwünsche loswerden konnte, war ihm schon ein anderer zuvorgekommen – der bisherige SPD-Chef Sigmar Gabriel.
Kaum hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) am frühen Nachmittag bekannt gegeben, dass Steinmeier im ersten Wahlgang von den anwesenden 1253 Delegierten der Bundesversammlung 931 Stimmen erhalten und damit die nötige Mehrheit erreicht habe, sprang Gabriel hoch und umarmte den künftigen Präsidenten herzlich – den Zwölften in der Geschichte der Bundesrepublik und der Dritte nach Gustav Heinemann und Johannes Rau, den die SPD stellt. Erst nach Gabriel konnte Gauck dem künftigen Hausherrn in Schloss Bellevue die Hände schütteln. Danach überreichte ihm SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann einen Blumenstrauß. Und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer, die seine Kandidatur unterstützt hatten, gratulierten mit Blumen.
Ein erwartbares Ergebnis angesichts der klaren Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung, in der die Große Koalition insgesamt 923 Wahlfrauen und -männer stellte und der bisherige Außenminister auch noch mit Stimmen aus den Reihen der Grünen wie der FDP rechnen konnte. Und doch herrschte an kleineren Überraschungen bei der geheimen Wahl kein Mangel.
So gab es immerhin 103 Enthaltungen, die wahrscheinlich überwiegend von CDU und CSU stammten, die den Kandidaten der SPD nicht wählen konnten oder wollten. Im Gegenzug erhielt der Kandidat der Linken, der Armutsforscher und ausgewiesene Hartz-IV-Kritiker Christoph Butterwege, 128 Stimmen, obwohl die Linke nur 95 Delegierte stellte, auch die Kandidaten der AfD und der Freien Wähler, Albrecht Glaser (42) und Alexander Hold (25), lagen über der Delegiertenzahl ihrer Partei (35 beziehungsweise elf). „Das ist deutlich mehr als zu erwarten war“, sagte der als Fernsehrichter bekannt gewordene Jurist aus Kempten gegenüber dieser Redaktion. Der von den Piraten nominierte Engelbert Sonneborn kam auf zehn Stimmen.
Auch wenn die Große Koalition offenbar nicht geschlossen Frank-Walter Steinmeier unterstützte, freute sich der Gewählte dennoch über das klare Ergebnis, ebenso seine Frau Elke Büdenbender, die auf der Ehrentribüne des Reichstags neben Daniela Schadt, der Lebensgefährtin von Joachim Gauck, und der Mutter Steinmeiers mit Herzklopfen die Wahl verfolgte. Auf die Frage Lammerts, ob er die Wahl annehme, antwortete er mit dem Zusatz „gerne sogar“. Und vor dem Plenarsaal zeigte er sich hinterher erleichtert, dass es für ihn „gut gelaufen“ sei. Nun wolle er die Pause bis zur Amtseinführung am 19. März genießen. „Diese Phase zwischen zwei Verantwortungen ist eigentlich eine ganz gute Möglichkeit, um ein bisschen runterzukommen“, meinte der Vielflieger mit Blick auf die zahllosen Termine und Auslandsreisen im Amt des Außenministers. Nun müsse er nicht mehr jeden Tag den „Alltag der Außenpolitik“ kommentieren.
Angela Merkel wie Horst Seehofer, denen es im Vorfeld nicht gelang, einen eigenen Kandidaten zu finden, wünschten dem Neuen alles Gute im höchsten Amt des Staates, auch wenn sie wussten, dass sie es ihren eigenen Parteien mit der Kür des SPD-Mannes nicht leicht gemacht hatten. „Ich traue ihm zu, dass er unser Land durch diese schwierigen Zeiten in seiner Funktion sehr gut begleiten wird“, sagte Merkel. Ähnlich äußerte sich CDU-Vize Thomas Strobl gegenüber dieser Redaktion: „Ich wünsche ihm den Segen, in einer möglicherweise sehr schwierigen Lage die richtigen Worte zu finden.“ Dagegen lobte die frühere Grünen-Chefin Claudia Roth das neue Staatsoberhaupt überschwänglich. „Er wird ein guter Präsident.“ Seine internationale Erfahrung könne gar nicht hoch genug geschätzt werden. „Er wird mehr gebraucht als wir jetzt vielleicht denken – er repräsentiert die Idee unserer Gesellschaft.“
Alle Äußerungen des Tages hatten nur ein Thema und drehten sich um einen Mann, der weder für das Amt des Präsidenten kandidierte noch der deutschen Politik angehört und diese doch seit seiner Amtseinführung am 20. Januar entscheidend beeinflusst – der neue amerikanische Präsident Donald Trump. Sowohl Bundestagspräsident Norbert Lammert, der zum vierten Male eine Bundesversammlung leitete und sie mit einer überaus pointierten Rede eröffnete, als auch der neugewählte Präsident Frank-Walter Steinmeier, der sie mit einer kurzen Dankesrede beschloss, fanden klare Worte und grenzten sich entschieden von der Politik des neuen Herrn im Weißen Haus ab – und gaben damit auch das Leitmotiv für die Präsidentschaft des 61-jährigen gebürtigen Westfalen vor.
Beide beschworen die Werte des freiheitlichen Rechtsstaats und der repräsentativen Demokratie, wofür sie langen Beifall erhielten.
„Wer Abschottung anstelle von Weltoffenheit fordert und sich sprichwörtlich einmauert, wer statt auf Freihandel auf Protektionismus setzt und gegenüber der Zusammenarbeit der Staaten Isolationismus predigt und 'Wir zuerst' zum Programm erklärt, darf sich nicht wundern, wenn es ihm andere gleichtun – mit allen fatalen Nebenwirkungen für die internationalen Beziehungen“, sagte Lammert. Den demokratischen Grundkonsens zu formulieren sei schwieriger geworden, „das macht die Aufgabe des Bundespräsidenten nicht einfacher, aber seine Bedeutung umso größer“.
Steinmeier nahm am Ende der Bundesversammlung dieses Motiv auf. Man lebe „in stürmischen Zeiten“, es stelle sich die bange Frage, ob der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, noch halte. Gleichwohl habe er gerade in seinem Amt als Außenminister erfahren, wie groß die Hoffnungen seien, die Deutschland in der Welt entgegengebracht werden. Für viele Menschen in der Welt sei es „ein Anker der Hoffnung“ geworden sei. Ohne Trump beim Namen zu nennen, beschwor er die Werte der Demokratie. „Wenn dieses Fundament anderswo wackelt, müssen wir umso fester auf diesem Fundament stehen.“ Und er verbreitete Zuversicht: „Lasst uns mutig sein, dann ist mir um die Zukunft nicht bange.“