In manchen Momenten schafft es Liam, alles von sich zu schieben. Dann kann der Ire über die Absurdität seiner Geschichte zumindest schmunzeln. In den Boomjahren hat der heute 43-Jährige, der mit seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen will, wie viele andere seiner Landsleute dem Druck der steigenden Immobilienpreise nachgegeben, einen Kredit aufgenommen, ein Haus gekauft.
„Jeder drängte einen damals zum Kaufen, ob Eltern, Freunde oder Medien, also kaufte jeder“, erinnert er sich. Doch im Jahr 2009 verlor er im Zuge der Finanzkrise erst seinen Job beim Chiphersteller Intel, dann den Kredit und damit auch das Haus. „Ich bin aus Verzweiflung manchmal stundenlang durch die Stadt gelaufen und habe mich geschämt, meiner Familie gegenüberzutreten“, sagt er.
Heute kutschiert er im Taxi Menschen durch das vibrierende Dublin und lebt mit seiner Frau und den beiden Kindern in einer Vierzimmerwohnung zur Miete. Die Mietpreise aber sind in der Republik insgesamt zuletzt um sieben Prozent, in der irischen Hauptstadt gar um zehn Prozent gestiegen und liegen damit in etwa auf dem Niveau vor Ausbruch der Krise.
2010 ging es unter den Rettungsschirm
Liam kann nur den Kopf schütteln, wenn er darüber nachdenkt, dass er erst unter der Rezession litt und nun in gewisser Hinsicht auch unter dem Aufschwung. Doch den preisen derzeit vor allem die Politiker. 2014 wuchs die Wirtschaft um knapp fünf Prozent – so kräftig wie keine andere innerhalb der EU. Dieses Jahr gehen Schätzungen gar von rund sechs Prozent aus. Das einstige Sorgenkind Europas gilt heute als Musterbeispiel für andere in Finanznot geratene Staaten in der EU.
Im Jahr 2010 musste Irland unter den Schutz des EU-Rettungsschirms schlüpfen, weil nach Ausbruch der weltweiten Finanzkrise die Immobilienblase platzte und die zu lax kontrollierten Banken auf faulen Hypotheken sitzenblieben. Die Regierung schritt damals ein, übernahm die Darlehen und brach daraufhin unter der Staatsverschuldung fast zusammen. Durch ein umfassendes und brutales Reform- und Sparprogramm, ausgehandelt mit der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, hat sich das Land aus der Rezession gekämpft.
Ist also alles wieder gut? Keineswegs. In den vergangenen sechs Jahren wurde praktisch nichts gebaut, nachdem der überhitzte Immobilienmarkt 2008 kollabierte und das Land an den Rand eines Staatsbankrotts brachte. Während die Menschen in Dublin unter steigenden Preisen ächzen, sieht es in der Postkartenidylle des ländlichen Raums anders aus. Zwischen den bei Touristen so beliebten sanften Hügeln und atemberaubenden Landschaften der Grünen Insel gammeln noch immer halb fertige Häusersiedlungen. Hunderte sogenannte „Ghost Estates“, Geistersiedlungen, stehen bis heute als Schandflecke in der Gegend – wie Mahnmale für den Bauwahn, der das Land fast in den Abgrund riss.
Leben auf einer Baustelle
Die meisten wurden mittlerweile entfernt oder vollendet, in einigen wohnen jedoch noch Menschen, die sich im Stich gelassen fühlen. Wie beispielsweise in Lismore im Süden der Insel, rund 60 Kilometer nördlich von Cork. Dort, wo Straßen nicht zu Ende asphaltiert wurden und Geröll und Kies das Eigenheim umschließen. Wo es zwar Straßenlaternen gibt, die Lampen aber fehlen. Wo Kanalschächte offenliegen und ohne Gitter auskommen müssen. Es sei gefährlich, hier zu leben, beschweren sich die Bewohner, bei denen, anders als in den geschäftigen Städten, keineswegs nur Zuversicht herrscht.
Die Lebensläufe der Menschen sind schwer gezeichnet von der Sparpolitik. „Es gibt nur wenige im Land, die nicht auf irgendeine Weise von der Krise betroffen sind“, sagt ein Ire in starkem Dialekt. Ihn treibt die Angst um, die Behörden könnten die Siedlung bald plattmachen, anstatt die Infrastruktur fertigzustellen.
„Viele dieser Häuser wurden an den falschen Stellen gebaut – in ländlichen Gegenden, wo es keine Jobs gibt“, erklärt Alan Barrett, Direktor des Instituts für Wirtschafts- und Sozialforschung (ESRI) in Dublin. Dabei gibt es von denen immer mehr. Betrug die Arbeitslosigkeit 2012 noch 15 Prozent, liegt sie derzeit bei 9,4 Prozent und dürfte bis zum Ende des Jahres unter die Neun-Prozent-Marke sinken.
Der große Makel an den vergleichsweise rosigen Zahlen: die Jugendarbeitslosigkeit. Noch immer haben etwa 20 Prozent der jungen Menschen keine Stelle. Wenn nicht so viele von ihnen ausgewandert wären, würde die Zahl noch höher ausfallen, sagt Gerard Gibbons von der Gewerkschaft SIPTU. Doch jene gut ausgebildeten Kräfte, die die Insel verlassen haben, werden jetzt in Zeiten des Aufschwungs gebraucht.
Dabei seien es laut Gewerkschaft weniger Steuerkürzungen, die die Heimat für Ausgewanderte wieder attraktiv machten, sondern vielmehr niedrige Wohnkosten, Schulen, eine verbesserte Kinderbetreuung oder ein gut ausgebauter öffentlicher Verkehr. „Die Menschen kommen zurück, wenn sie eine bessere Lebensqualität erwartet“, sagt Gibbons.
Luca Boschin stammt eigentlich aus Italien und doch zog es ihn nach Irland. Er brüht sich an diesem Abend einen Kaffee auf, während das Geräusch des Staubsaugers durch das Haus hallt. Doch das allgemeine Signal, in den Feierabend aufzubrechen, überhört er routiniert. Zu groß sind die Ambitionen, Pläne und Träume des Start-up-Unternehmers. Die Büroräume des großen Vorbilds Google leuchten zu später Stunde ebenfalls noch im dunklen Dublin auf. Der 29-jährige Boschin und der gleichaltrige Alessandro Prest haben einen speziellen Algorithmus zur Erkennung von Logos auf Bildern entwickelt und das Start-up mit dem Namen Logograb gegründet. Und sich dafür Dublin als Standort ausgesucht.
Immerhin wählten auch US-Internetgiganten wie Facebook, Google, Twitter, Dropbox oder LinkedIn das Steuerparadies, als es darum ging, ihr Europageschäft aufzubauen. Die Steuer auf Unternehmensgewinne ist mit 12,5 Prozent so niedrig wie in kaum einem anderen Industriestaat, weshalb es seit Jahren Kritik von europäischen Staaten auf die Regierung hagelt. Doch insbesondere US-Konzerne argumentieren, Irland sei auch aufgrund der englischen Sprache geeignet – sowie durch die geografische Lage die perfekte Brücke nach Amerika.
Dass die Branchenriesen in den früheren Hafen-Docks gläserne Bürotürme hochgezogen haben, lockt kleinere Tech-Unternehmen und Start-ups wie Logograb an. „Hier konzentriert sich alles auf engstem Raum“, erklärt der Italiener Boschin, der mit seiner grünen Nerd-Brille und dem aus der Hose hängenden Hemd aussieht, wie man sich IT-Gründer gemeinhin vorstellt. Man habe in Dublin Zugang zu hervorragenden Ressourcen, vor allem, was geeignete Fachkräfte in diesem speziellen Feld angeht.
Wirtschaft international ausgerichtet
Das ist auch einer der Gründe, warum sich das Medizintechnik-Unternehmen Medical Mainstay in Dublin niedergelassen hat. „Hier gibt es die höchste Konzentration an Expertise im Bereich Medizintechnologie“, sagt Geschäftsführer Peter Crosby. Das Produkt – ein Muskelstimulator, der in den Rücken von Patienten mit chronischen Kreuzschmerzen eingesetzt wird – soll nächstes Jahr auf den Markt kommen. Der Start ist in Deutschland geplant. Trotzdem will die weltweit agierende Firma ihren Hauptstandort in Irland belassen. „Die Wirtschaft hier ist offen und international ausgerichtet“, so Crosby. „Zudem ermutigt die Regierung Firmengründungen. Wir im Medizintechnik-Sektor waren Teil der Erholung der irischen Wirtschaft.“
Tatsächlich macht der Staat kräftig Werbung, vor allem die Zukunftsbranchen Pharma, Medizintechnik, Software, Internet und Finanzdienstleistungen, aber auch die Lebensmittelindustrie stehen seit dem wirtschaftlichen Ab und Auf des Landes im Fokus. „Unser Ziel ist es, dass in Nischenbereichen mehr irische Unternehmen den Markt dominieren“, sagt Brendan Flood von der staatlichen Behörde Enterprise Ireland, die sich um die Wachstumsförderung von Firmen kümmert.
„Wir müssen exportorientiert sein.“ Das sei der Schlüssel zum Erfolg.
Der eingeschlagene Weg zeigt Wirkung. Ende 2013 verließ Irland mit seinen 4,6 Millionen Einwohnern den Schutz des Rettungsschirms, es findet wieder alleine Gläubiger auf dem Kapitalmarkt. Die Milliardenschulden an den IWF wurden vorzeitig getilgt. Könnte sich die Inselrepublik wieder zum gefeierten keltischen Tiger emporarbeiten, wie sie vor der Rezession genannt wurde?
„Noch immer herrscht bei vielen Menschen die Vorstellung, dass wir wieder die Zeiten aus den Jahren 2005 oder 2006 erreichen“, sagt der Ökonom Alan Barrett. Doch damals klaffte eine große Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben für öffentliche Dienstleistungen wie Bildung oder Kinderbetreuung. Viele Steuern seien aus dem Bausektor gekommen und fielen mit dem Platzen der Blase weg.
Es ist Zeit, die „Kinder“ zu füttern
Dass die Koalitionsregierung unter Premierminister Enda Kenny, bestehend aus der Mitte-Rechts-Partei Fine Gael und der Labour-Partei, wenige Monate vor der Parlamentswahl angekündigt hat, zusätzlich 1,5 Milliarden Euro in den öffentlichen Sektor stecken zu wollen, stößt manchen Beobachtern auf. Sie bemängeln, es handle sich um reine Wahlkampfgeschenke oder gar um einen Rückfall in alte Denkmuster. Dabei sollte in Zeiten des Aufschwungs doch das Geld lieber dafür ausgegeben werden, „das Dach komplett in Ordnung zu bringen“ – was so viel heißen soll wie die Schuldenlast abzutragen und Geld für schlechte Zeiten wegzulegen.
„Wenn man vier Jahre lang das Dach repariert und es endlich in einem zumutbaren Zustand ist, dann musst du die Kinder im Haus füttern und darfst sie nicht verhungern lassen“, sagte Brendan Howlin, Minister für öffentliche Ausgaben, gegenüber dieser Redaktion. Die Menschen hätten harte Einschnitte aushalten müssen. „Wir müssen ihnen nun etwas Entlastung zugestehen.“
Das ist Irland
Größe: Irland ist mit 70 282 Quadratkilometern etwa so groß wie Bayern. In der Metropolregion Dublin lebt etwa ein Drittel der 4,6 Millionen Einwohner des Landes. Wirtschaft: Irland war von der Finanzkrise ab 2007 hart betroffen, weil der Wohlstand auch durch Spekulationsblasen wie auf dem Immobiliensektor entstanden ist. Außerdem ist die irische Wirtschaft stark von ausländischen Direktinvestitionen abhängig. Die laxe Regulierung des Finanzsektors zog zwar viele ausländische Banken an, Irlands Gesamtwirtschaft ist dafür aber im Ausland stark verschuldet. Die beiden großen Zentren des Landes sind Dublin und Cork, hier konzentriert sich das Arbeitsplatz-Angebot. In den ländlichen Regionen sieht es damit schlecht aus. Text: AZ